Begeht Israel in Gaza einen Völkermord? Das beschäftigt demnächst den Internationalen Gerichtshof. Geplanter Völkermord ist schwer zu beweisen, aber die Rufe israelischer Extremisten könnten den Vorwurf erhärten.
Der am 7. Oktober durch die Terrorangriffe der islamistischen Hamas ausgelöste Krieg mit Israel, der besonders den Gazastreifen trifft, hat in der israelischen Bevölkerung und weiten Teilen der westlichen Welt starken Rückhalt. An der Frage, was nach dem Krieg mit Gaza passieren soll, scheiden sich jedoch die Geister. Während die Welt das Küstengebiet weiter als Eigentum der Palästinenser sieht, die nicht vertrieben werden dürften, halten rechtsextreme Regierungsmitglieder gegen jede Kritik daran fest, dass Gaza wieder jüdisch besiedelt und die arabischen Bewohner zur “freiwilligen Abwanderung” gebracht werden sollten.
Es brauchte massive Kritik aus den USA, der EU, der Nachbarn und weiterer Länder, bis ein israelischer Regierungsvertreter den Palästinensern eine Rolle in Nachkriegsgaza zugestand. Am Donnerstag, Tag 90 nach Kriegsbeginn, erklärte Verteidigungsminister Joav Gallant gegenüber Journalisten, weder werde die Hamas nach Kriegsende den Gazastreifen regieren noch Israel die zivile Kontrolle über das Gebiet ausüben. “Es sind Palästinenser, die im Gazastreifen leben, deshalb werden palästinensische Akteure für den Gazastreifen verantwortlich sein, unter der Bedingung, dass sie Israel nicht feindlich gesinnt sind und nicht gegen Israel operieren werden”, zitierte die Zeitung “Haaretz” den Likud-Politiker.
Eine “zivile Präsenz Israels im Gazastreifen” werde es nicht geben. Genau dafür aber werben Gallants Ministerkollegen, Finanzminister Bezalel Smotrich (Religiöser Zionismus) und der Minister für Nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir (Jüdische Stärke). Vor allem ihre Forderungen nach neuen jüdischen Siedlungen und ihre Agitation für eine “freiwillige” Abwanderung der Palästinenser aus dem Gazastreifen hatten die Weltöffentlichkeit auf den Plan gerufen.
Trotz scharfer Kritik von allen Seiten legen sie immer wieder nach. Eine Massenauswanderung von Palästinensern und die Erneuerung der israelischen Siedlungen im Gazastreifen seien “das Gebot der Stunde”, so Ben-Gvir laut Medien am Sonntag. Ohne jüdische Siedlungen in Gaza werde Israel “in zehn oder 15 Jahren aufwachen und einen neuen 7. Oktober erleben”, erklärte Smotrich am Montag gegenüber “Kanal 14”. Nur eine jüdische Präsenz könne vor Terrorismus schützen, andernfalls werde es “jeden Morgen zwei Millionen Nazis geben, die uns vernichten wollen”.
Smotrich & Co. sind nicht die einzigen, die mit ihren Aussagen zu Gaza empören. Wiederholt erklärte die israelische Armee, dieser Beitrag in Sozialen Medien oder jene Aussage eines Soldaten stimme “nicht mit den Werten und Richtlinien des Militärs” überein – sei es der Militärrabbiner, der im November proklamierte, “das ganze Land” gehöre “uns”, einschließlich Gaza und Libanon, oder der Soldat, der im Januar per Videobotschaft die Zerstörung des Gazastreifens forderte. Auch der israelische Komiker Guy Hochman schaffte es mit Videos in die Schlagzeilen, bei denen er die Zuschauer durch ein verlassenes Haus im Gazastreifen führte – im Stil einer Hotelkritik.
Inzwischen mehren sich in Israel die Stimmen, die in den Worten der Regierungsvertreter eine Bürde für Israels nächste Herausforderung sehen: den Internationalen Gerichtshof (IGH), der Südafrikas Vorwurf prüfen wird, Israel begehe im Gazastreifen Taten und Unterlassungen “völkermörderischen Charakters”. Dabei sollen unter anderem Zitate israelischer Politiker untersucht werden, und die reichen von der Aussage, der Abwurf einer Atombombe auf Gaza sei “eine Option” (Kulturerbe-Minister Amihai Elijahu, Jüdische Stärke), über die Widmung, die Israels Präsident Isaac Herzog auf einer für Gaza bestimmten Rakete hinterließ, bis zu Landwirtschaftsminister Avi Dichter (Likud), nach dessen Worten Israel eine Nakba in Gaza anstrebt. Mit Nakba (Katastrophe) bezeichnen die Palästinenser die Flucht und Vertreibung von Palästinensern infolge des israelischen Unabhängigkeitskriegs 1948/49.
Auch wenn Israel die Autorität des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) nicht anerkennt, hat es die Konvention der Vereinten Nationen über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes unterzeichnet, woraus der IGH seine Befugnisse ableitet. Nach dieser Konvention setzt Völkermord die “nachgewiesene Absicht der Täter voraus, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe physisch zu vernichten” (Artikel II). Der Nachweis dieser Absicht gilt als juristisch schwierigster Aspekt.
Israels Absicht geht nach südafrikanischer Ansicht eindeutig aus den diversen Kommentaren a la Smotrich hervor. Als dringendstes Anliegen will Südafrika eine einstweilige Verfügung erreichen. Die Anhörungen dazu hat der IGH für den 11. und 12. Februar angesetzt. Dann muss Israel das Gericht nicht nur davon überzeugen, dass es keinen Völkermord begeht, sondern auch, dass die Aussagen seiner Minister in keinem Zusammenhang mit der offiziellen Politik Israels oder dem tatsächlichen Vorgehen der Armee in Gaza stehen.
Dass weder Netanjahu noch Generalstaatsanwältin Gali Baharav-Miara sich bisher klar gegen völkermörderische Äußerungen in israelischen Reihen geäußert haben, könnte, so Beobachter, die Argumentation des Landes vor dem IGH schwächen. Von keinem geringeren als Netanjahu selbst stammen die biblisch-blutrünstigen Zitate zur Auslöschung Amaleks auf Südafrikas Zitateliste.