Sinn und Orientierung sind wichtig auf dem Weg zum Erwachsenwerden. Institutionen wie die Kirche spielen dabei für die Generation der 19- bis 27-Jährigen aber immer weniger eine Rolle. Foto: Alexander Scholle
In der Mitte des Kirchenschiffs steht eine Mauer. Sie trennt die Gottesdienstbesucher auf der linken Seite von denen auf der rechten Seite. Die auf der rechten Seite wohnen in Einfamilienhäusern und feiern Gartenpartys. Die auf der linken Seite wohnen in Plattenbauten und trinken vor dem Fernseher. Was wünschen die einen den anderen? Kann man sich in jemanden hineinversetzen, der so unterschiedlich lebt? Papierflieger werden mit Wünschen für die Fremden beschrieben und über die Mauer geschickt. Jubel, als die ersten Flieger die andere Seite erreichen. Dann folgt der Aufruf, die Mauer einzureißen, die trennenden braunen Pappkartons gemeinsam wegzuräumen. Die Fremden gehen plötzlich aufeinander zu, sprechen über die Wünsche auf den Papierfliegern, aber auch über ihre Ängste und Zweifel.Das Rollenspiel ist Teil des interaktiven Jugendgottesdienstes in der Hephata-Gemeinde in Berlin-Neukölln zum Buß- und Bettag. Mauern einreißen und die eigene Filterblase verlassen – das Thema haben sich die Jugendlichen des Kirchenkreises Neukölln selbst ausgedacht. „Wir wollten einen Gottesdienst zu einem aktuellen Thema machen, das auch politisch ist“, sagt Tatjana Schaal. Die 17-Jährige hat den Gottesdienst mit vorbereitet. Ihre Gemeinde habe sie aufgenommen, als es ihr nicht gut ging, erzählt sie. Gemeinde – das bedeutet für Tatjana Geborgenheit, Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die Halt gibt. Gerhard Wegener, Leiter des sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD, zeichnet hingegen ein Bild einer Generation, die vor allem sich selbst im Blick hat. Er beruft sich auf eine von der EKD in Auftrag gegebenen Studie des Instituts zur Lebens- und Glaubenswelt junger Menschen zwischen 19 und 27 Jahren. „Junge Leute führen ein eigenständiges, glückliches Leben, ohne uns als Kirche. Die Institution Kirche wird für sie zunehmend bedeutungslos“, sagt er auf der Mitte November zu Ende gegangenen EKD-Synode, die sich mit dem Schwerpunktthema „Glaube junger Menschen“ befasst hat. 1000 Frauen und Männer haben für die Studie repräsentativ an einer Online-Befragung teilgenommen. Auf die Frage, wer oder was am meisten ihr Leben bestimmt, antworteten 84 Prozent „ich selbst“. Für 62 Prozent bestimmt die Familie ihr Leben und nur für 19 Prozent ein personifizierter Gott. Die Befragten sind nahezu provozierend selbstbewusst, kollektive Verbindungen wie die Mitgliedschaft in einem Verein, einer Partei oder einer Kirche spielen in ihrem Leben kaum noch eine Rolle. Wegener spricht von einem „gravierenden Einstellungswandel“ der jungen Erwachsenen zu Institutionen, Gemeinschaftswerten und gemeinschaftlichem Handeln. In einem Einleitungskommentar zur Studie schreibt er: „Noch keine Generation war so sehr auf sich selbst bezogen wie die jetzt lebende.“ Nur die eigene Familie und der Freundeskreis spielten als Gruppierungen noch eine Rolle.