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Die Frau, die im Reichstag geboren wurde

In den letzten Jahren des Zweiten Weltkriegs kamen mindestens 80 Kinder im Kellergewölbe des Reichstags auf die Welt. Eine von ihnen ist Mareile Van der Wyst.

Berlin (epd). Mareile Van der Wyst steht vor dem Reichstag und will rein. Die 74-Jährige mit dem kurzen kupferroten Haar hat ihre Geburtsurkunde dabei, die sie den Sicherheitsleuten unter die Nase hält. Das sorgt für Verwirrung. "Ich bin hier geboren. Ich habe ein ewiges Zutrittsrecht." Als die Kontrolleure verdutzt ihren Chef über Funk fragen, ob das denn stimme, will der davon nichts wissen. Van der Wyst bleibt selbstbewusst. "Dann ist der eben nicht ausreichend informiert", sagt sie und wünscht, den Vorgesetzten des Chefs zu sprechen. Und siehe da, nach etwa zehn Minuten darf sie passieren.

Auf dem Dokument steht in Schreibmaschinenschrift "Mareile Christiane Hildegard Dieckhoff ist am 15. September 1944 in Berlin im Reichstagsgebäude geboren". Und darauf ist Mareile, die seit ihrer Hochzeit Van der Wyst heißt, stolz. "Außer mir gibt es nur ganz wenige Menschen, die den Reichstag als Geburtsort in ihrer Urkunde stehen haben."

In Berlin droht vor allem nachts Bombenalarm

Heute wohnt Mareile Van der Wyst in einem grünen Haus in einem ruhigen Dorf in Brandenburg. Durch die Verglasung des Wintergartens sieht man im Garten ihren Ehemann Ralph, einen Amerikaner. Er sitzt dort fast zwei Stunden auf einer Bank, während auf einem Grill das Fleisch eines Wildschweins vor sich hinräuchert, das er vor ein paar Tagen selbst geschossen hat. Vögel zwitschern, eine Libelle fliegt von einer Butterblume zur nächsten. Sie selbst sitzt an einem Tisch mit hellgelber Tischdecke und schenkt sich ein Glas Wasser aus einer Karaffe ein, während sie aus ihrem Leben erzählt.

Im September 1944, dem Monat ihrer Geburt, droht in Berlin vor allem nachts Bombenalarm. Nur ein Bruchteil der Bevölkerung schafft es, sich einen Platz im Bunker zu ergattern – und so ziehen Frauen und Kleinkinder schon morgens los, um sich in Sicherheit zu bringen. Das Kellergewölbe des Reichstags ist dunkel und eng – aber in diesem Moment einer der sichersten Orte Berlins. Über Wochen fährt ihre hochschwangere Mutter jeden Tag von Lichtenberg zum Reichstag, um die Nacht im Keller zu verbringen. Morgens muss sie das Lager wieder räumen – bis schließlich ihre Tochter Mareile geboren wird.

Ihr Vater ist streng und katholisch

Die Geschichte ist selten, aber nicht einzigartig: Zwischen 1943 und 1945 werden nach Angaben des Bundestages mindestens 80 Berlinerinnen und Berliner in den für "Kinder und Wöchnerinnen" ausgebauten Kellerräumen des Reichstags geboren.

Als Kind flieht Mareile Van der Wyst mit ihrer Familie nach Westberlin, wo sie bis zu ihrem Abitur bleibt. Ihr Vater ist streng und katholisch und will nicht, dass sie studiert. Gegen seinen Willen geht sie im Alter von 21 nach Genf und heuert bei einem Finanzkonzern an, wo sie im Personalbüro arbeitet. Zwei Jahre später wird sie schwanger, nachdem sie auf einem Fest einen pakistanischen Investmentbanker kennenlernte, wie sie erzählt. "Es hat Klick gemacht. Er war meine erste große Liebe", sagt sie und ihre Augen glänzen. Doch das Glück währt nicht lange: Der Vater ihres ungeborenen Kindes ist bereits verheiratet.

Das Gewölbe ist heute nicht mehr zugänglich

Als sie nach Berlin zurückkehrt, steht sie vor einem Problem: "Mein Vater war so ein Erzkatholik! Wenn ich da geblieben wäre, schwanger und nicht verheiratet, wäre er an einem Herzanfall oder Schlaganfall gestorben." Im fünften Monat schwanger fliegt sie ins pakistanische Lahore, um das Kind bei den Eltern ihres Exfreundes zur Welt zu bringen. Dort angekommen, ist sie entsetzt. Sie kann sich nicht verständigen, denn fast niemand spricht Englisch. Es gibt kein fließendes Wasser.

Suheel Andreas bringt sie im amerikanischen Krankenhaus von Lahore zu Welt. Dann kehrt sie nach Berlin zurück. Unter der Bedingung, das Kind sofort katholisch taufen zu lassen, darf sie wieder zu ihrer Familie. Wenig später heiratet sie Ralph, Amerikaner von der Airforce, der in Tempelhof stationiert ist. Danach studiert sie, endlich, und wird Lehrerin, ein Beruf, den sie bis zur Rente ausübt.

Für den 8. September ist sie nach Berlin eingeladen – vom Deutschen Bundestag, wie alle Menschen, die vor etwa 75 Jahren zum Ende des Zweiten Weltkriegs im Reichstagsgebäude das Licht der Welt erblickt haben. Kurz vor der Feier ist sie nun zu ihrem Geburtsort zurückgekehrt. Natürlich ist es für sie nicht der erste Besuch im Reichstag. Sie wirft einen Blick auf die Kuppel, fährt auch mit dem Fahrstuhl in den Keller. Das Gewölbe aber, in dem sie inmitten des Krieges geboren wurde, ist heute nicht mehr zugänglich.