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„Ihr Abtrünnigen – ihr Atheisten“

Jesidische Frauen schildern ihre Zeit als Gefangene des „Islamischen Staates“. Drei neue Bücher eröffnen erschütternde Einblicke in eine Welt voller Gewalt. Zu den Misshandlungen kommen quälende Selbstvorwürfe

picture alliance / AP Images

Seit zwei Jahren haben die Jesiden im Nahen Osten traurige Bekanntheit erlangt. Immer wieder werden Angehörige der Minderheit von der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) entführt oder hingerichte; laut Schätzungen des Zentralrats der Jesiden in Deutschland wurden bis Ende des vergangenen Jahres 5000 Frauen versklavt. Mehrere neue Bücher machen einige Einzelschicksale hinter den Schlagzeilen nun greifbar.
Jesidische Jungen werden als Kindersoldaten ausgebildet, Mädchen „misshandelt, vergewaltigt, entmenschlicht“, so beschreibt der Psychologe Jan Kizilhan die Lage.  Kizilhan behandelt Hunderte Betroffene, darunter auch eine junge Frau, die unter dem Pseudonym Shirin das Buch „Ich bleibe eine Tochter des Lichts“ veröffentlicht hat. Das Land Baden-Württemberg sorgt für die psychosoziale Betreuung von insgesamt 1000 misshandelten Frauen. „Wieso können Menschen anderen Menschen so etwas antun?“, habe Shirin ihn immer wieder gefragt, sagt Kizilhan. „Sie schaute in meine Augen, als wartete sie auf eine Antwort. Ich hatte keine.“

Vor der Vergewaltigung: Niederknien zum Gebet

Antworten auf diese Frage dürfen auch die Leserinnen und Leser von Jinan Badels Buch „Ich war Sklavin des IS“ nicht erwarten. Ihre Schilderungen von Gewalt sind erschütternd; kaum weniger die Hintergründe, die sie zum alten Hass auf die Jesiden nennt. „Seit vielen hundert Jahren sind wir hinter euch her“, zitiert sie einen IS-Kämpfer, „ihr kafir, ihr Abtrünnigen, ihr Atheisten!"
Farida Khalaf gibt in „Das Mädchen, das den IS besiegte“ Licht- und Schattenseiten von Religion wieder: Regelmäßige Gebete hätten ihr in der Gefangenschaft Halt gegeben, betont die Autorin. „Für mich war klar, dass ich meine Religion nie verraten würde, auch wenn ich dafür sterben müsste.“ Auch beschreibt sie im Nachwort, wie sich deutsche Ordensschwestern nach ihrer Flucht um sie kümmerten.
Gleichzeitig prangert Khalaf den Missbrauch von Religion an. So schildert sie, wie Terroristen vor Vergewaltigungen zum Gebet niederknien und ihre Tat so „als eine Art Gottesdienst“ zelebrieren. Dabei, so betont Khalaf, sei ihr Tun „nicht im Geringsten gottesfürchtig“, sondern „eine große Schande für ihre Religion, die sie damit beschmutzten“.
Eher indirekt kritisieren die Autorinnen auch  Teile ihrer eigenen, von religiös motivierten Tabus geprägten Erziehung und Kultur. „Wenn man versucht, dich zu besudeln, nimm dir das Leben“, riet man Jinan Badel; nach ihrem Schein-Übertritt zum Islam befürchtete die Jesidin den Ausschluss aus ihrer Religionsgemeinschaft. Die Selbstvorwürfe der Frauen seien vielleicht das Schlimmste an der Gefangenschaft gewesen, schreibt ihre Leidensgenossin Khalaf: „Wir alle waren so erzogen worden, dass wir uns selbst die Schuld gaben.“ Am Schicksal anderer Frauen habe sie jedoch erkannt, „dass das falsch war“. Solch differenzierte Töne beeindrucken.

Asyl in Europa ist kein Allheilmittel

Umso irritierender ist es, wenn die Titeleingabe bei Online-Händlern als weitere „Kaufempfehlungen“ Sadomaso-Groschenromane oder Fetisch-Outfits zutage fördert. Offenbar gibt es hierzulande ein Publikum, das sich an voyeuristischer Kriegspornographie weidet.
Dabei könnte die Lektüre womöglich jene Stimmen dämpfen, die lautstark und ohne Differenzierung fordern, Deutschland solle keine „Anreize“ für die Aufnahme neuer Flüchtlinge schaffen. Wer einen Weg wie Khalaf, Badel oder Shirin hinter sich hat, der braucht wohl keinerlei Kenntnis über Sozialsysteme, um in Europa das Paradies auf Erden zu vermuten. Betroffene wie Badel betonen aber auch, dass Asyl kein Allheilmittel ist. Die Probleme müssten vor Ort gelöst werden, unterstrich sie unlängst in einem Interview einer Zeitschrift.
Die Bücher der vom IS verfolgten Frauen zeigen: Der Terror kann jeden treffen – auch wenn ein gewisses Maß an Realitätsverleugnung aus Selbstschutz wohl normal ist. So war es auch bei Khalaf. Die Grenze zu Syrien liegt 50 Kilometer von ihrem Heimatort im Nordirak entfernt. Dennoch, so schreibt sie, habe sich der Krieg vor ihrer Entführung „irgendwo im Fernsehen“ abgespielt – „weit entfernt von meiner eigenen Realität und meinem Alltagsleben.“ Dann aber brach er in ihre Welt ein. Gnadenlos und in aller Härte.