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“Ich bete an die Macht der Liebe” beim Zapfenstreich für Scholz

Er ist das höchste militärische Ritual der Bundesrepublik: der Große Zapfenstreich. Dazu gehört das Lied mit dem bekannten Anfang “Ich bete an die Macht der Liebe”. Dagegen ist sein Dichter heute nur noch wenig bekannt.

Die Fackeln tauchen die Gebäude am Bendlerblock in ein unwirkliches Licht. “Helm ab – zum Gebet!”, schnarrt der Kommandeur. Langsam lösen die Soldaten ihre Kinnriemen und führen die Helme vor die Brust. Der Große Zapfenstreich nähert sich seinem Höhepunkt: das Lied mit der bekannten Anfangszeile “Ich bete an die Macht der Liebe” erklingt. So wird es auch am Montagabend beim Abschiedsritual für Noch-Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) sein.

Deutlich weniger bekannt als das Lied ist heute der Schöpfer dieser Worte. Dabei war Gerhard Tersteegen (1697-1769) zu seiner Zeit ein bedeutender Theologe und Mystiker. Dass eines seiner vielen Gedichte einmal im höchsten militärischen Zeremoniell der Bundesrepublik landen würde, hätte er sich aber sicher nicht träumen lassen.

Als friedfertig, bescheiden und aufopfernd, als “wahrer Freund Gottes und der Menschen” wird der Mann beschrieben, der am 25. November 1697 in Moers am Niederrhein in eine Kaufmannsfamilie hineingeboren wird. Bereits 1703 stirbt der Vater, doch ermöglicht die Mutter dem begabten Sohn, im Sinne “der Fortpflanzung des reformierten Glaubens” Latein, Griechisch, Hebräisch und Französisch zu lernen. Viel Wert wird auf Bibel-Lektüre, Katechismusunterricht und regen Gottesdienstbesuch gelegt.

Für ein Studium fehlt aber doch das Geld; Tersteegen muss 1712 im Geschäft seines Schwagers in die Lehre gehen. Dafür befasst er sich in jeder freien Minute mit erbaulichen Büchern. Sein Versuch, nach der Lehrzeit ein eigenes Geschäft aufzubauen, scheitert. Tersteegen ist für die “Eitelkeit alles Irdischen” nicht gemacht. “Er hatte ein betendes Herz und auch eine gebeugte Gestalt”, schreibt ein Freund über ihn. Die Bekanntschaft mit einem frommen Leinenweber bringt Tersteegen darauf, dieses ruhige Handwerk auszuüben. Er führt ein anspruchsloses Leben und unterstützt dabei noch Arme und Kranke, auch mit selbst gemischten Arzneien.

An Gründonnerstag 1724 setzt Tersteegen ein Zeichen mit seiner feierlichen “Verschreibung an den Heiland”. Dazu gehören Zeilen wie “Von nun an bis in Ewigkeit nicht mein, sondern dein Wille geschehe! Befehle, herrsche und regiere in mir!” Er verfasst außerdem Übersetzungen und Bearbeitungen der Schriften von Mystikern wie Jean Bernieres de Louvigny oder Thomas a Kempis. Ohne studiert zu haben, gilt er vielen als bedeutender Theologe.

Er schreibt zwei Dutzend Biografien großer Christen wie Franz von Assisi, Hildegard von Bingen oder Teresa von Avila, befasst sich aber auch kritisch mit dem Preußenkönig Friedrich II. Statt ein Werkzeug Gottes zu sein, schreibe dieser große Mann “sparsam vom Frieden, hingegen von der Kriegskunst so weitläufig”, so Tersteegen.

Etwa um 1750 entsteht sein Lied “Für dich sei ganz mein Herz und Leben”, dessen vierte Strophe “Ich bete an die Macht der Liebe, die sich in Jesus offenbart” titelgebend im “Großen Zapfenstreich” wird. Das militärische Zeremoniell aus dem Beginn des 19. Jahrhunderts wurde auf Geheiß des Preußenkönigs Friedrich Wilhelm III. um ein Gebet erweitert. “Ich bete an” erklang erstmals beim Zapfenstreich am 12. Mai 1838 in Berlin – mit der Melodie des ukrainischen Komponisten Dmitri Stepanowitsch Bortnjanski (1751-1825).

Seither ertönt das Lied immer dann, wenn Bundespräsidenten, Bundeskanzler oder Verteidigungsminister verabschiedet werden – zuletzt im März 2023, als Christine Lambrecht (SPD) als Verteidigungsministerin ausschied – und zuvor 2021 bei Angela Merkel.

Ob Gerhard Tersteegen über diesen Einsatz seiner Zeilen glücklich wäre, lässt sich nur spekulieren. Vielleicht sprach ihm aber der Tübinger Rhetorikprofessor Walter Jens aus dem Herzen, der einmal in der “Zeit” dazu schrieb: “Nähme man die Worte ernst (besser: kennte man sie überhaupt) – man ginge am Ende des Zapfenstreichs still und gedankenvoll, aber gewiss nicht winkend und grinsend davon.”