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Historiker unterstützt erweiterte Gedenkstättenlandschaft

Der Zeithistoriker Martin Sabrow hat sich für eine Ausweitung der staatlich finanzierten Erinnerungskultur in Deutschland ausgesprochen. Er unterstützt damit Pläne von Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne), die neben der NS-Zeit und der DDR künftig auch den Kolonialismus sowie die Einwanderungs- und die Demokratiegeschichte als Säulen der Erinnerungskultur etablieren möchte. Nach Kritik etwa von Gedenkstätten und dem Zentralrat der Juden wurde ein entsprechender Entwurf allerdings wieder zurückgezogen. Der ehemalige Direktor des Leibniz-Zentrums für Zeithistorische Forschung in Potsdam erklärt im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd), warum er das neue Konzept dennoch unterstützt. Am Mittwoch will sich Roth mit Vertretern von Gedenkstätten dazu beraten.

epd: Der im Februar von Kulturstaatsministerin (BKM) Claudia Roth (Grüne) vorgelegte Entwurf zu einer Aktualisierung der Gedenkstätten-Konzeption ist von Gedenkstättenleitern kritisiert worden. Sie befürchten unter anderem eine Verharmlosung des Holocaust, wenn – wie angedacht – neben NS-Zeit, Schoah und deutscher Teilung künftig auch Kolonialismus, Einwanderungsgesellschaft und die Demokratie Pfeiler der Erinnerungskultur sein sollen. Ist der Vorwurf der Verharmlosung berechtigt?

Martin Sabrow: Die Stellungnahme der Dachverbände formuliert etwas zurückhaltender und indirekter – das BKM-Papier könne „als geschichtsrevisionistisch im Sinne der Verharmlosung der NS-Verbrechen verstanden werden“. Trotzdem ist der damit insinuierte Vorwurf ungerecht und abenteuerlich; er schlägt der auf die Vergangenheitsaufarbeitung bezogenen Förderpolitik von BKM geradezu ins Gesicht und lässt sich nur aus dem allerdings mehr als kritikwürdigen Umstand erklären, dass die Gedenkstätten in die Entstehung des rasch wieder zurückgezogenen Konzeptionsentwurfs nicht eingebunden waren.

Gleichwohl birgt die Ausweitung des Gedenkkonzepts um drei weitere Säulen – Kolonialismus, Einwanderungsgesellschaft, Demokratie – geschichtspolitischen Sprengstoff: Die Frage nach dem kolonialgeschichtlichen Erbe und fortbestehenden rassistischen Verhaltensmustern und Weltbildern unterläuft die Gegenüberstellung von Diktatur und Demokratie, die zum Kern der staatlichen geförderten Vergangenheitsaufarbeitung zählt. Die Einbeziehung der Demokratiegeschichte in die staatliche Förderpolitik weckt die Sorge vor einem relativierenden Geschichtsbewusstsein, das die „vielen hellen Jahre“ der deutschen Geschichte nicht durch die „wenigen dunklen“ verschattet wissen will und damit in die Selbstentlastung der Nachkriegsgesellschaft zurückfällt.

epd: Wo stehen Sie?

Sabrow: Beide Befürchtungen halte ich für irrig. Die kritische Vergangenheitsaufklärung hat in den vergangenen 40 Jahren kulturelle Dominanz erlangt; sie eint Wissenschaft, Politik und Geschichtskultur in einem nach 1945 zunächst nicht vorstellbaren Konsens und zählt heute zum Kern des bundesdeutschen Selbstverständnisses. Wir sollten darum nicht besorgt sein, auch die fortbestehenden Erblasten der Vergangenheit zu thematisieren und die Wechselbeziehungen von Schoah und Kolonialverbrechen, von Erfolgen und Irrwegen der Demokratiegeschichte zu reflektieren.

epd: Damit zusammenhängend: Es wird kritisiert, dass der – inzwischen zurückgezogene – Entwurf der BKM zur Neukonzeption der Gedenkstätten nicht mehr nur staatliche Verbrechen im Blick hat, sondern auch die Zivilgesellschaft, etwa rassistische oder antisemitische Straftaten. Ist es noch zeitgemäß, nur an „staatlich verordnete“ Verbrechen zu erinnern?

Sabrow: Die Konzentrierung auf Staatsverbrechen ergibt sich aus der Diktaturenaufarbeitung. Aber sie erweist sich als zu eng in Bezug auf die Vor- und Nachgeschichte der beiden großen Diktatursysteme des 20. Jahrhunderts: Die antirepublikanische Hetze der Weimarer Zeit ging so wenig vom Staat aus, wie es die Mordanschläge auf demokratische Politiker zwischen 1918 und 1933 taten, und sie sind doch unabdingbarer Teil unserer Erinnerungskultur. Staatlich verordnete Verbrechen stellen auch die Attentate auf bundesdeutsche Politiker und die Terroranschläge der RAF nicht dar und ebenso wenig die Mordanschläge des NSU oder die pogromartige Hetze gegen ethnisch, politisch oder wegen ihrer sexuellen Orientierung abgelehnte Bevölkerungsgruppen, die die Geschichte der Bundesrepublik bis in die Gegenwart begleiten.

Nur eine Gedenkpolitik, die auch die zivilgesellschaftliche Urheberschaft historischen Unrechts entschlossen in den Blick nimmt, kann dem Zusammenhang von Zivilisation und Barbarei gerecht werden, der die Moderne jenseits der Unterscheidung von Diktatur und Demokratie prägt. Anderenfalls droht die staatliche Gedenkförderung mehr und mehr in die bloße Musealisierung einer erfolgreichen Diktaturaufarbeitung abzurutschen.

epd: Ist die Aufregung vielleicht auch nur der Befürchtung geschuldet, dass die staatliche Förderung künftig unter mehr Gedenkstätten verteilt würde und somit weniger Geld für die einzelnen Einrichtungen übrig bliebe?

Sabrow: Es wäre unfair, den massiven Protest der Gedenkstätten gegen das mittlerweile zurückgezogene BKM-Papier als bloßen Verteilungskampf abzutun. Gleichwohl spricht aus ihm auch die berechtigte Sorge, dass eine Ausweitung der gedenkpolitischen Themenfelder die bisherige Finanzierung der bestehenden Gedenkstättenlandschaft einschränken könnte. Die bundesstaatlich geförderten Lern- und Erinnerungsorte sind überwiegend so knapp finanziert, dass sie ihren über die Sicherung ihrer Authentizität hinausreichenden Aufgaben als Orte des Gedenkens und der Trauer ebenso wie des historischen Lernens und der Forschung häufig nur unzureichend nachkommen können. Eine thematische Ausweitung kann es nicht zum Nulltarif geben, sie verlangt zugleich eine entsprechende Mittelaufstockung etwa über eine Erhöhung des bisher 50-prozentigen Bundesanteils in der Grundförderung oder in Bezug auf die fachwissenschaftliche Begleitung von Projektanträgen, um den erhofften Zukunftsgewinn nicht in einen Substanzverlust zu verwandeln.

epd: Angesichts verschiedener Stressfaktoren für unsere liberale Demokratie, etwa durch Klimakrise, Globalisierung, Ukrainekrieg und Rechtspopulisten – welche Aufgaben sollten Gedenkstätten heute für die Erinnerungskultur übernehmen?

Sabrow: Gedenkstätten sind keine gesellschaftspolitischen Reparaturanstalten, sondern zunächst Orte des Opfergedenkens, an denen erlittenes Leid verarbeitet werden kann. Darüber hinaus stellen sie mit der Authentizität des Ortes und der Eindringlichkeit ihrer Botschaft Anker des gesellschaftlichen Gedächtnisses dar, die zur Orientierung in der Gegenwart beitragen können. Das scheint wenig und ist doch sehr viel. Unsere heutige Gedenkstättenlandschaft ist Ausdruck einer Geschichtskultur, die sich nicht mehr dem Glauben an den Vorbildcharakter historischer Helden verschrieben hat, sondern dem Wissen um die Zerbrechlichkeit unserer Zivilisation. Damit allein lassen sich die Herausforderungen der Gegenwart nicht bewältigen, aber ohne sie gewiss gar nicht.