Vor 200 Jahren, am 28. August 1825, wurde Karl Heinrich Ulrichs (1825-1895) in Ostfriesland geboren. Der Pionier der Sexualwissenschaft gilt heute als Urvater der weltweiten Schwulenbewegung. Im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) erläutert der Historiker Norman Domeier, was das Besondere an Ulrichs Kampf war und warum dessen Werk noch heute eine Mahnung sein sollte. Domeier stammt aus dem niedersächsischen Eichsfeld und lehrt derzeit als Gastprofessor in Prag. Einer seiner Forschungsschwerpunkte ist die Geschichte der Homosexualität vom Mittelalter bis heute.
epd: Herr Domeier, warum sollten wir die Erinnerung an Ulrichs wachhalten?
Norman Domeier: Karl Heinrich Ulrichs war fraglos eine große Persönlichkeit. Mit bewundernswertem Mut und Durchhaltevermögen hat er an seiner Sache festgehalten – gegen die öffentliche Meinung eines ganzen Zeitalters. Seine Rede beim Deutschen Juristentag 1867 in München, in der er sich für die Straffreiheit homosexueller Handlungen einsetzte, ging im Protestgeschrei unter. Und kurz nach der Reichsgründung 1871 galt der preußische Strafrechtsparagraf 175 gegen Homosexuelle plötzlich deutschlandweit. Trotzdem ließ sich Ulrichs bis zu seinem Lebensende nicht entmutigen.
Aus dem Rückblick unserer Gegenwart scheint mir besonders beachtlich: Ulrichs kämpfte nicht wie viele seiner Zeitgenossen für eine Nation oder in einem nationalen Rahmen – er kommunizierte auf beeindruckende Weise transnational und tauschte sich mit Menschen auf der ganzen Welt aus. Damit war er der erste Vorkämpfer für die Rechte sexueller Minderheiten als Teil global gültiger Freiheits- und Menschenrechte. Ihm ging es um Freiheitsrechte nicht nur für sich und Gleichgesinnte, sondern für alle Menschen. Dies unterstrich er in einer Erklärung, in der er sich an die Seite anderer diskriminierter Gruppen stellte, etwa Polen, Juden, Katholiken und außerehelich Geborene. Auch die von Preußen bedrängten Hannoveraner zählte er dazu.
epd: Worin besteht Ulrichs wissenschaftliches Verdienst?
Domeier: Er hat männliches homosexuelles Begehren zum Gegenstand eigener Forschung gemacht wie niemand vor ihm. Die Sexualwissenschaft verdankt ihm viele Anregungen, zum Beispiel die Zwischenstufentheorie, die Magnus Hirschfeld weiter ausgebaut hat. Danach existieren zwischen den idealtypischen Polen „Mann“ und „Frau“ zahlreiche geschlechtliche Mischformen. Damit hat Ulrichs viel von den Fragestellungen der Queer Theory vorweggenommen.
epd: Tatsächlich berufen sich heute auch Queer-Feministinnen auf Ulrichs. Viele schwule Männer wollen dagegen mit linker Queer-Politik und Gendermainstreaming nichts zu tun haben. Der CDU-Politiker Jens Spahn hat sogar gesagt: „Ich bin nicht queer, ich bin schwul.“ Haben Sie dafür Verständnis?
Domeier: Ich denke, da hat Spahn schon einen Punkt. Warum soll er sich nicht als schwuler Mann verstehen dürfen? Tatsächlich ist es ja so, dass der Begriff „queer“ schlecht ausdefiniert ist und sehr verschieden verwendet wird. Warum soll Spahn dies als Selbstbezeichnung für sich annehmen, nur weil es andere von ihm wünschen?
Als Mitglied im Beirat der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld habe ich mitbekommen, wie sich in Berlin in den letzten 15 Jahren rund um den neuen Queer-Aktivismus viel Streit entzündet hat, beispielsweise über die Toilettenfrage: Die einen fordern, dass jeder auf jede Toilette gehen können soll, unabhängig vom biologischen Geschlecht oder irgendwelchen Zuschreibungen. Eher traditionell gesinnte Lesben lehnen das ab und sagen ‘Dafür habe ich nicht gekämpft’. Dafür werden sie teilweise von jungen Queer-Aktivisten verteufelt.
epd: Wo stehen Sie in diesem Konflikt?
Domeier: Ich engagiere mich als Historiker, nicht als Aktivist. Außerdem bin ich heterosexuell. Generell würde ich mir mehr Toleranz und Geschlossenheit in der schwul-lesbischen oder queeren Bewegung wünschen. Viele scheinen vergessen zu haben, dass sie noch bis vor wenigen Jahrzehnten für ihr Anderssein ins Gefängnis gesteckt worden wären. Ich finde, man sollte sich eine Offenheit bewahren und akzeptieren, dass es für manche eine sehr weite und für andere eine enger gefasste Definition ihrer sexuellen Identität gibt.
epd: Paragraf 175 wurde 1994 endgültig abgeschafft. Inzwischen gibt es die Ehe für alle. Wird die Geschichte der Liberalisierung seit Ulrichs einfach immer weitergehen?
Domeier: Mit der Annahme einer progressiven Heilsgeschichte, in der stufenweise alles besser wird, wäre ich sehr vorsichtig. In der Geschichte gibt es immer wieder unerwartete Rückschläge – wie wir es etwa seit einigen Jahren in den USA beobachten können. In den meisten arabischen, südostasiatischen und afrikanischen Ländern ist die politische Lage für sexuelle Minderheiten zuletzt ebenfalls nicht besser geworden. Auch in Deutschland und Europa werden wir uns sicher auf Rückschritte einstellen müssen – auch wegen des Streits innerhalb der schwul-lesbischen Bewegung. Ulrichs’ Leben und Werk sollten uns eine Mahnung sein, unser freiheitliches Zusammenleben als hart erkämpft zu schätzen und zu verteidigen.