Highways, Eisenbahnen und Siedler: Erst die Erschließung des riesigen Raumes hat die USA zu einer Weltmacht gemacht. Karl Schlögel, bisher als Russlandkenner bekannt, blickt auf das Werden einer großen Nation.
Er ist ein Russland- und Osteuopa-Kenner. Moskau, die Sowjetunion und Stalins Terrorregime sind seine zentralen Themen. Seit Jahrzehnten will der Historiker Karl Schlögel dem Publikum den Osten Europas näherbringen.
Ausgerechnet jetzt, wo Schlögels Wissen über die Ukraine und Russland so stark nachgefragt wird, wagt der Historiker den Blickwechsel und wendet sich nach Westen – zur zweiten Supermacht des 20. Jahrhunderts, den USA.
2017 erschien sein Buch “Das sowjetische Jahrhundert”, jetzt folgt mit “American Matrix” der Rückblick auf das amerikanische Jahrhundert, das Schlögel 1893 mit der Weltausstellung von Chicago beginnen und am 11. September 2001 mit dem Einsturz der Türme des World Trade Centers enden lässt.
Der Historiker hat einen besonderen Blick auf sein Fach: Geschichte, davon ist er überzeugt, spielt nicht nur in der Zeit, sondern auch im Raum. Sie wird erst vor Ort lebendig. Kunst und Technik, Architektur und Literatur, Musik und Wissenschaft: Der Historiker darf sich nicht allein Archive und Akten verlassen; er muss zum Reisenden und Wanderer werden.
In seinem 800 Seiten starken neuen Werk verdichtet Schlögel in 18 Essays Betrachtungen über historische Amerika-Reisende – den französischen Politiker Alexis de Tocqueville, den Geographen Friedrich Ratzel und den Soziologen Max Weber – und Beschreibungen von Städten, Shopping Malls, Eisenbahnlinien oder Highways zur “Besichtigung einer Epoche”.
“American Matrix”, nominiert für den Bayerischen Buchpreis, erzählt, wie Nordamerika erschlossen wurde, Städte und Industrien aus dem Nichts entstanden, Wolkenkratzer in den Himmel schossen. Das alles hervorgebracht von einer Gesellschaft, die sich frei von allen Traditionen fühlte und eine ungeheure Dynamik entwickelte.
Eine prägende Bedeutung für die Entwicklung der USA schreibt Schlögel dem Verkehrssektor zu: Erst die Erschließung des großen Raums – durch Siedler, die Eisenbahnlinien und Highways – habe die USA zu einer Macht geformt. “Die Eisenbahn veränderte die amerikanische Gesellschaft, indem sie sie innerhalb weniger Jahrzehnte des neunzehnten Jahrhunderts von einer vorwiegend agrarischen Wirtschaft zu einem industriellen Kraftzentrum machte.”
Schlögel, der 1970 – als Linksradikaler – erstmals in die USA reiste, sie im Greyhound-Bus durchquerte und dabei eine tiefe Sympathie für das Land entwickelte, ist sich sicher: Das Versprechen des American Way of Life veränderte die Welt genauso wie das sozialistische Experiment.
Der Historiker erkennt überraschende Parallelen zwischen Sowjetunion und USA: Etwa bei der Stadtentwicklung und beim Bau von Hochhäusern und industriellen Großprojekten wie Staudämmen. Der in Moskau geplante Palast der Sowjets nahm Maß am Empire State Building. Sowjetische Architekten sammelten Erfahrungen beim Bau von Wolkenkratzern in New York. Parallelen auch zwischen dem Ersten Fünfjahresplan der Sowjetunion und dem amerikanischen Maschinen-Zeitalters sowie den dazu gehörigen Leitbildern für die Jugend – dem Beruf des Piloten oder des Ingenieurs.
Aber Schlögel beschreibt auch die großen Unterschiede: So konfrontiert er die amerikanische Landnahme und den Ausbau von Verkehrswegen und Städten mit der Ohnmacht des Zarenreichs wie der Sowjetunion, den “russischen Raum zu durchdringen”: Auf der einen Seite das sich in der Weite Sibiriens verlierende schmale Städteband entlang der transsibirischen Eisenbahn, auf der anderen Seite das dichte Netz hell erleuchteter Städte auf dem US-Territorium. Deutlich macht Schlögel auch den radikalen Unterschied zwischen offener und geschlossener Gesellschaft, zwischen dem Leben in einem demokratischen Land und in einer totalitären Gesellschaft.