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Hinterlassenschaft des Nazareners

„Alles ist vergeben“ stand über der Mohammed-Karikatur des Magazins „Charlie Hebdo“. Unser Gastautor fragt: Was ist damit gemeint?

Die richtungsweisenden Theologen der sunnitisch-muslimischen Al Azhar- Universität in Kairo gehören eigentlich nicht zu den Scharfmachner in religiösen Konflikten. Al Azhar steht eher für fromme und staatsmännische Besonnenheit. Umso heftiger erschrecke ich bei der Nachricht, ein Sprecher von Al Azhar habe die Karikatur mit dem weinenden Propheten auf der Titelseite des Satire-Magazins „Charlie Hebdo“ kritisiert. Nein, er hat nicht einfach kritisiert, sondern der Kritik eine gewaltige Dimension verliehen mit dem Zusatz, die Zeichnung werde den Hass unter den 1,4 Milliarden Muslimen auf Erden weiter zunehmen lassen.

Klar: Lässt man das theologisch Kleingedruckte für Spezialisten mal beiseite, dann bekennt und praktiziert der Islam ein Darstellungsverbot für die Person des Propheten. Populäre, sogar einfühlsame Begründung: Bilder des Propheten führen früher oder später zu seiner Anbetung und beleidigen damit Allah – siehe Jesus und Christentum.

Aber ein theologischer Pflichtvorbehalt hätte doch genügt! Bei der schrecklichen Vorgeschichte! Warum das globale Hass-Szenario an die Wand malen?

Frustriert und enttäuscht wende ich mich der verdammten Karikatur zu. Millionen Landsleuten in Europa, vor allem Nicht-Muslimen, wird es ergangen sein wie mir: Diese Figur ist auf bedauernswerte Weise sympathisch. Eine Autorität in bitterer Niedergeschlagenheit – und mit Haltung, ausgedrückt durch das Statement „Je suis Charlie“. Oben drüber, geheimnisvoll fürs Erste: „Alles ist vergeben.“

Da sind wir wirklich grundverschieden drauf: Muslime, wir Christenmenschen und die Religionslosen in den ehemals christlich dominierten Gesellschaften. Ich habe seit der Kinderbibel tausende, abertausende von bildlichen Darstellungen Jesu von Nazareth bewusst ansehen; ob absichtsvoll präsentiert als normaler Mann oder als himmlischer Gottessohn und Weltenrichter, also als ins Bild gesetzte Christus-Theologie. Diese Bilder sprechen zu mir, schon das ganze Leben lang. Zu meinen Leit-Bildern gehören einige scharfe Jesus-Cartoons, die mich angewandte Theologie gelehrt haben und das immer noch tun.

Die goldglänzenden Christus-Ikonen eines Teils der Christenheit sind mir fremd geblieben. Sei‘s drum. Aber die Hoffnungen und Herausforderungen, die sich mit diesem Jesus verbinden, nicht in immer neuen Darstellungen anschauen dürfen? Unvollstellbar!

Für das Sensorium unseres Christen-Glaubens ist Jesus zu sehen und notorisch auch zu hören. Das springt mich an auf dem Titel-Cartoon – vom Zeichner selbstverständlich unbeabsichtigt. „Tout est pardonné. Alles ist vergeben.“ Das könnte O-Ton Jesus sein. Es passt zu ihm, auch wenn er hier gewiss nicht zitiert sein soll.

Aber zu sehen ist Mohammed. Soll er der Sprecher sein? Wenn tatsächlich, an wen wendet er sich dann? Wem vergibt er gegebenfalls?

Mit dem Bekenntnis, dass er Allahs Prophet sei, wollen unsere muslimischen Nachbarn auch sagen, dass er etwas unvergleichlich anderes ist als dieser Jesus. Er ist der Prophet des „All-Erbarmers“. Der All- Erbarmer mag vergeben, nicht sein Prophet.

Jesus von Nazareth hingegen geht sogar noch einen Schritt weiter und gibt seine eigene Vollmacht zur Vergebung weiter an die, die ihm folgen: „Wem ihr die Schuld erlasst, dem ist sie erlassen.“

Es bewegt mich, vermuten zu müssen, dass sich die garantiert areligiösen, wenn nicht gar anti-religiösen Magazin-Satiriker hier vermutlich das Privileg zur Vergebung aus dem Fundus der europäischen Geistesgeschichte entleihen. Und die ist nun mal randvoll mit Hinterlassenschaften des Nazareners. Denn wer anders kann in diesem Arrangement vernünftigerweise vergeben als die überlebenden Opfer?

So bleibt es wohl am Ende bei den Muslimen, auf Vergebung mit Vergebung zu antworten. Je frommer sie sind, im kraftvollen Sinn des Wortes, um so leichter müsste ihnen das fallen. Meint der Cartoon im Kern doch, dass wir Christenmenschen und unsere religionslosen europäischen Landsleute dem Propheten sehr viel zutrauen: eigentlich nicht weniger als Jesus von Nazareth, dessen Vergegenwärtigungen im Bild Teil unseres Lebens – wenigstens aber unseres Erbes sind.