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Hat er oder hat er nicht?

Martin Luthers Thesenanschlag an die Wittenberger Schlosskirche gilt als Geburtsstunde der Reformation. Aber schon seit Jahrzehnten ist er unter Historikern umstritten

© epd-bild / akg-images

Vor 500 Jahren, am 31. Oktober 1517, lief Martin Luther zur Wittenberger Schlosskirche und nagelte seine 95 Thesen an die Kirchentür. Das haben viele Protestanten im Religions- oder Konfirmandenunterricht gelernt. Aber stimmt das auch?
Ausgerechnet ein Katholik verwies vor 55 Jahren den Urknall des Protestantismus ins Reich der Legenden. Der Anschlag der 95 Thesen durch den Augustinermönch Martin Luther (1483-1546) am 31. Oktober 1517 an die Türen der Wittenberger Schlosskirche habe so nie stattgefunden, schrieb der katholische Kirchenhistoriker und Luther-Biograf Erwin Iserloh 1961 in seiner Abhandlung „Luthers Thesenanschlag, Tatsache oder Legende?“.
Iserloh ging davon aus, dass Luther die brisanten Thesen, mit denen er den damals üblichen päpstlichen Ablasshandel „Geld gegen Sündenvergebung“ anprangerte, lediglich als Rundschreiben an seine Vorgesetzten versandt hatte – als Aufforderung zur Disputation. Erst als auf seine Kritik die Reaktionen des Erzbischof Albrecht von Mainz und des Bischofs von Brandenburg ausblieben, habe er die 95 Thesen öffentlich gemacht. Zum Reformator sei er eher unabsichtlich geworden.
Damit hätte die Reformation, die die mittelalterliche Welt aus den Angeln hob und die Kirche spaltete, weitaus unspektakulärer begonnen als bislang angenommen. Noch Anfang des 20. Jahrhunderts gab es unter Kirchenhistorikern an den Hammerschlägen, die „bis Rom zu hören waren“, keinerlei Zweifel.
Der evangelische Kirchenhistoriker Heinrich Boehmer berichtet um 1900 sehr detailliert aber leider ohne Nennung der Quelle, Luther sei am 31. Oktober 1517 gegen 12 Uhr vom Schwarzen Kloster den kurzen Weg zur Schlosskirche gelaufen, um dort das Plakat mit den 95 Thesen an die Kirchentür zu nageln. Boehmers Kollege Otto Schulze schwelgte 1917 zum 400. Jubiläum in seinem „Buch für das deutsche Volk zum Reformationsjubelfest“, es gebe „keinen herrlicheren Tag in der deutschen Geschichte als den 31. Oktober 1517. Licht, Sonne, ein neuer Frühling war dem deutschen Volke aufgegangen.“ Noch 80 Jahre später griff der evangelische Kirchenhistoriker Walther von Loewenich die 12-Uhr-Geschichte in seinem 1982 veröffentlichten Luther-Buch auf. Trotzdem wuchsen nach dem Vorstoß Iserlohs auch unter den Protestanten erste Zweifel am Thesenanschlag. Seitdem gibt es praktisch zwei Schulen unter den Lu­therforschern: eine große Schule der Zweifler und eine etwas kleinere der Standhaften.
Berichte von Augenzeugen sind nicht überliefert, von dem Reformator selbst ist auch kein Bericht über Hammerschläge bekannt. Bezeugt wurde der Thesenanschlag stattdessen von Luthers Freund und Mitstreiter Phi­lipp Melanchthon (1497-1560). Die bis heute im öffentlichen Bewusstsein existierende Version der Thesenanschläge sei auf Melanchthon zurückzuführen, schreibt der Wittenberger Lutherforscher Martin Treu.
In einem Vorwort zu Luthers Werken schrieb Melanchthon 1546: „Und diese (Thesen) schlug er (Luther) öffentlich an der Kirche neben dem Schloss an am Vorabend des Festes Allerheiligen im Jahr 1517.“ Allerdings sei Melanchthon kein Augenzeuge gewesen, sagt Treu. Er kam erst im August 1518 nach Wittenberg. Und als er das schrieb, war Luther bereits tot.
2006 entdeckte Treu in der Universitätsbibliothek von Jena Notizen aus dem Jahr 1540 von Luthers Assistenten Georg Rörer (1492-1557). Die Anmerkungen in einem von Luther benutzten Neuen Testament berichten vom Thesenanschlag. Befürwortern gelten sie als ältester Beleg für den Wahrheitsgehalt der Geschichte. Allerdings sei auch Rörer kein Augenzeuge gewesen, schreibt Lutherexperte Treu.
Der Hamburger Philosoph Joachim Köhler hält dagegen einen Thesenanschlag für plausibel. Schon immer sei damals an Kirchentüren bedeutungsvoll gehämmert worden, schreibt Köhler in „Luther! Biographie eines Befreiten“.
Der einzige Grund, warum damals nicht darüber geredet wurde, habe in der Selbstverständlichkeit der Prozedur gelegen, ist Köhler überzeugt. „Der Thesenanschlag, als solcher ein banaler Vorgang, schien Luther selbst nicht der Rede wert.“