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Gottes Worte sind Lebensmittel

Rabbiner Andreas ­Nachama im Gespräch mit Pröpstin Christina-Maria Bammel

Die ökumenische Kampagne „#beziehungsweise – jüdisch-christlich: näher als du denkst“ startet bundesweit im Januar 2021, in dem Jahr, in dem Jüdinnen und Juden das Festjahr 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland begehen. Ihr Ziel: Vor­urteile gegenüber dem Judentum abbauen, Gemeinsamkeiten entdecken und Unterschiede anerkennen­. Besonders gut lässt sich das bei religiösen Festen erkunden. Deshalb erscheint jeden Monat ein Plakat zu je einem jüdischen und einem christlichen Fest. Gemeinden hängen es in die Schaukästen. „die ­Kirche“ startet dazu eine begleitende Reihe. 

Journalist*innen fragen Rabbiner oder Rabbinerin und Pfarrerin oder Pfarrer, was ihnen das Fest bedeutet und wie sie es feiern. Ein Jahr lang lädt „die Kirche“ jeden zweiten Mittwoch im Monat zu einem Online-Dialog (via Zoom) zwischen zwei Gesprächspartnern ein. Die Zuschauer*innen am Computer sind eingeladen Fragen zu stellen. Hier finden Sie alle Infos und können sich anmelden.

Los geht es in dieser Ausgabe mit der Bedeutung von Gottes Wort. 

Johanna Friese sprach mit Pröpstin Christina-Maria Bammel und Rabbiner Andreas Nachama über zweifaches Hören, beerdigte Torarollen, Worthäppchen als Brotboxen und einen gemeinsamen Schatz. 

„Eines hat Gott geredet, ein Zweifaches habe ich gehört“ (Psalm 62,12). Würden Sie dem zustimmen?

Bammel: Ja, Gott spricht einfach, zweifach, dreifach und es gibt viele Wege des Verstehens, viele Facetten. 

Nachama: Gott hat einmal gesprochen und jede Generation und man selbst versteht es immer wieder neu und anders. Deshalb gibt es ja auch den jüdischen, christlichen, mus­limischen Weg des Verstehens. 

Können Sie die jüdischen Aus­legungstraditionen kurz erklären?

Nachama: Die älteste ist der ­Midrasch, eine Art assoziative Predigt über einzelne Worte oder Satzteile. Im Talmud sind es eher thematische Auslegungen, in denen mittelalterliche Rabbinen miteinander diskutieren. Sie haben sehr ­systematisch versucht, die Bibel zu erklären und dabei die Wider­sprüche in der Schrift zu ­begradigen. 

Wie heilig ist uns jeweils die Schrift in der Praxis? 

Nachama: Wie der Mensch würdevoll beerdigt werden muss, werden auch die Torarollen beerdigt. Hier in Berlin passiert das alle 10 bis 12 Jahre auf dem Friedhof. 

Bammel: Mir hat mal eine Dame eine kleine Bibel geschenkt, die mit auf der Flucht war. Das Heilige ist dort mit in eine Schmerzgeschichte gegangen. Die Heiligkeit der Schrift sollte uns lieb und teuer sein – mitten im Alltag. 

Geht Glaube auch ohne Bibel und Schrift?

Bammel: Das kann ich mir nicht vorstellen. Die Schrift ist ja eine ­Niederlegung dessen, was und wer sich offenbart hat, mündlich oder schriftlich geschehen. Diejenigen, die hören und lesen, sind immer selbst Teil des Auslegungszirkels. Damit sind sie im Erfahrungsraum von Zeugen vor uns, die Erfahrungen mit Gott gemacht haben. Die Worte sind Lebensmittel unseres Glaubens.

Nachama: Das sehe ich auch so.

Wie kommen die Worte der Schrift in den Gottesdiensten jeweils vor?

­Nachama: Wir haben die Wochenabschnitte der Tora, im Schaltjahr variiert das, aber man kommt immer am Ende oder am Anfang an, so wird die Tora in einem Jahr komplett durchgelesen. Schriftlesen heißt für uns, es laut vorzulesen. Wenn ich Predigten vorbereite, lese ich mir den Text laut vor. Mit jeder neuen weltlichen Umgebung erlebe ich auch die Schrift neu.

Bammel: Das ist genau die Chance, die uns die Schrift gibt: Dass wir immer wieder neu den kleinen Auszug und Einzug ins Verstehensland der Schrift erleben können. Gut sind deshalb die Reihen, in denen sich die Lesungen alle sechs Jahre wiederholen. Fast jedes Wort im Gottesdienst, von der Eröffnung bis zum Segen, ist Raum gewordene Schrift. Dort kann man sich bergen, halten, tragen ­lassen und sich orientieren. 

Aber manche fremden Worte sind heute schlicht unverständlich

Nachama: Einige Passagen kann man nur vermittelt verstehen in historischem oder übertragenem Sinne. Man muss immer versuchen, die ­Bedeutung in der Gegenwart fest­zumachen oder einfach sagen: Das sehen wir heute anders.

Bammel: Es gibt unterschiedliche Arten von Fremdheit. Texte sind im Laufe der Lebensgeschichte mal ferner mal näher. „Gott tröstet wie eine Mutter“, erreicht mich vielleicht in dunkelsten Zeiten nicht so wie zu anderen Zeiten. Es gibt eine Fremdheit, die durch den historischen ­Abstand entsteht. Schließlich bleibt das Geheimnisvolle und unsere ­Deutung nur Versuch.

Wie aber hören diejenigen, die heute nichts anfangen können mit den alten Texten?

Nachama: Wenn jemand kein Ohr dafür hat, bleibt es schwer, mit den Texten heute umzugehen. Aber das ist über die Jahrhunderte gleich geblieben, es gäbe keine Kommentare zur Bibel, wenn Menschen sie immer aufgeschlagen und gleich verstanden hätten. Es braucht Kreativität. 

Haben Sie ein Beispiel dafür?

Nachama: Nehmen wir: „Im Anfang war das Wort und Gott sprach es werde Licht und es ward Licht.“ Ein paar Verse weiter kommen Sonne, Mond, Sterne, die erschaffen werden. Es geht also beim Licht nicht um Tageslicht, sondern um die Erleuchtung, im Sinne der Aufklärung. 

Welchen Text lernt ein jüdisches Kind zuerst? 

Nachama: Kinder hören sicherlich von Mutter oder Vater an der Bettkante das „Sch’ma Israel“ – das „Höre, Israel“ als Nacht- oder Morgengebet. Traditionell beginnt die jüdische Vorschule mit dem Talmud-Traktat „Baba Mezia“. Da geht es um „mein“ und „dein“, um Diebstahl und solche Dinge. Um das Leben. 

Wie haben Sie Ihren Kindern christliche Texte nahegebracht?

Bammel: Mit der Gebetssprache. Und die schönste Weise zu beten, ist betend zu singen. Aber auch das Vaterunser ist wichtig und ebenso, selbst eine eigene Sprache zu finden. 

Nachama: Bei uns ist schwierig, dass zumindest in der orthodoxen Tradition kein Raum für eigene ­Formulierungen da ist. Die Gebetssprache Hebräisch bleibt abstrakt. Mit meinen Kindern habe ich zweisprachig gebetet, um ihnen den Raum zu geben für eigene Varianten. 

Wie begleiten uns die Bibelworte sonst noch? 

Bammel: Wenn es gut geht, wachsen die Kinder etwa mit der Weihnachtsgeschichte auf, singen und spielen sie nach, so kann ihnen das Wort zu einer Geschichte werden,  die sich mit ihrer eigenen Lebensgeschichte verbindet. Aber es gibt auch eine gewisse Spannung. Ich denke da an die Tauf- und Konfirmationssprüche, dem Kontext entkleidet. Wie etwa Jesaja 43,1 „Fürchte dich nicht“, einer kleinen Person zur Taufe zugesagt. Da wird das geistige Lebensbrot in Brotboxenformat ­geschnitten. 

Gibt es bei Ihnen auch „Worte-Häppchen“ zu bestimmten Festen?

Nachama: Jeder, der eingesegnet wird, der Bar-Mizwa oder Bat-Mizwa hat, sucht sich selbst einen Prophetentext aus, den er laut liest und ein wenig erklärt. Solche Verse begleiten einen dann manchmal ein Leben lang. 

Die Kirche hat einst behauptet, die alleinige Deutungshoheit über die Schrift zu haben. Ist das heute überwunden?

Nachama: Bei uns war manchmal sonntags Propst Grüber zu Gast und fragte mich nach dem aktuellen ­Toraabschnitt und er setzte seine christliche Auffassung dagegen. ­Unsere Wände in der Wohnung sind dennoch zu meiner Überraschung stehen geblieben. 

Bammel: Ich bin so froh, dass Sie die Geschichte erzählen! Das zwei­fache Hören ist in einer guten Weise möglich. 

2021 feiern wir 500 Jahre reformatorische lutherische Bibelübersetzung. Wofür könnte das ein guter Anlass sein?

Bammel: Wir müssen klar machen, dass auch Übersetzungsgeschichten Zeugnis geben von fatalen Irrtümern und Zeitgeist. Etwa die antisemitischen Ressentiments in Luthers Übersetzungen. Sie waren ein Baustein eines abgründigen Denkens und Verhaltens – mit barbarischen Folgen. Das zu begreifen, gehört selbstverständlich in die theologische Ausbildung!

Wie sehen Sie darauf?

Nachama: Manche neutestamentliche Texte sind hartes Brot. Beide waren nach der Tempelzerstörung Erben der alten Opferreligion und mussten etwas ersetzen. Die einen haben den Kiddusch und die Synagoge daraus gemacht, die anderen das Abendmahl und die Kirche. Eine Konkurrenz im besten und schwierigsten Sinne. Luthers Übersetzung war ein Aufbruch, bei allen antisemitischen Ausfällen, die er auch hatte. Auf den katholischen Indexlisten waren ja unendlich viele Bücher, die vorher nicht gelesen werden durften. Jede neue Übersetzung schafft ein neues Dialogfeld. 

Bammel: Ja, das detaillierte Arbeiten an jedem Buchstaben, am Satzbau und Klang macht die Hebräische Sprache so besonders. Das ist etwas, was wir erst neu erringen und „erlieben“ konnten in der jüngeren christlichen Theologie.

Simchat Tora – das jüdische Fest der Gesetzesfreude feiert die Worte. Wie können wir solche Freude erzeugen?

Bammel: Wir können kein solches wunderschönes Fest erfinden, aber vielleicht könnten wir auf Menschen schauen, die aus dem existenziellen Leben dieser Worte heraus in Dichtung gegangen sind, wie eine Art Glaubenstanz: Dorothee Sölle, Huub Oosterhuis, Gerhard Tersteegen, Paul Gerhardt. Sie alle machen das Leben zu einem Fest – mit den Worten, die mir zu lebenslangen Freunden werden können, auch wenn ich nicht alles an ihnen verstehe. 

Haben wir also einen gemeinsamen Schatz mit der Schrift?

Bammel: Aber ja! So wie Partner und Freunde in aller Unterschiedenheit auf einen gemeinsamen Schatz zurückgreifen und ihn gemeinsam pflegen und daraus genährt werden.

Nachama: Die Traditionen stehen nebeneinander. Schaue ich auf meinen Schatz, die Hebräische Bibel, durch die Brille des Neuen Testaments, entdecke ich noch einmal mehr.