Regelmäßiger Gottesdienstbesuch, Tischgebete und andere christliche Übungen führen im Protestantismus ein kümmerliches Leben. Wie evangelische Spiritualität wiederbelebt werden kann, erfragte Sabine Kuschel bei Peter Zimmerling, Professor für Praktische Theologie an der Universität Leipzig.
Damit der Glaube leben und wachsen kann, braucht er Nahrung. Was ist Ihrer Meinung nach der Minimalproviant?
Ich stamme aus einer kirchendistanzierten Familie. Dennoch war es selbstverständlich, dass meine Mutter am Abend vor dem Einschlafen das Gebet ,Lieber Gott, mach mich fromm, dass ich in den Himmel komm‘ sprach. Später lehrte mich meine ältere Schwester das Vaterunser. Bis zur Pubertät war das Abendgebet selbstverständlich. Das galt auch für das Tischgebet am Sonntagmittag. Zudem brachte meine Mutter mir als Kind eine Reihe von Klassikern des Gesangbuchs bei. Nicht anders erzählt es Matthias Claudius vor zweihundert Jahren von seiner Mutter.
Wann entstand der Bruch?
Diese Tradition ist nach 1968 abgebrochen und müsste dringend wiederbelebt werden. Angesichts der Situation geht es darum, den jungen Müttern und Vätern Mut zu machen, im Rahmen der Kindererziehung wieder solche kleinen Rituale zu praktizieren. Familiengottesdienste sind Gelegenheiten, davon zu sprechen. Vätern und Müttern könnte am Ende des Gottesdienstes ein schön gedrucktes Kindergebet zum Abend mitgegeben werden.
Regelmäßiger Gottesdienstbesuch, Tischgebete und andere christliche Übungen sind im Protestantismus verkümmert…
Der Protestantismus zeichnet sich durch eine Begeisterung für das Alltägliche aus. Das kann man an den beiden Gründergestalten des lutherischen Protestantismus ablesen: Martin Luther und seine Frau Katharina von Bora versuchten zunächst beide, ihren Glauben im Kloster, an einem Ort außerhalb der Welt, außerhalb des Alltags zu leben. Nach ihrem Austritt aus dem jeweiligen Orden haben sie ihren Glauben zwar noch am klösterlichen Ort (im früheren Wittenberger Kloster Luthers), aber fortan als Ehepaar und als Familie inmitten der Welt gelebt. Deswegen sage ich: Das Markenzeichen evangelischen Glaubens ist seine Alltagsverträglichkeit. Noch etwas anderes kommt dazu: Luther und Katharina haben damit gezeigt, Glaube ist nicht bloß Sache einer frommen Elite, sondern kann von jedermann und jederfrau gelebt werden.
Christen haben zwar alle Freiheit, ihren Glauben zu leben. Es gibt hier und dort Aufbrüche. Aber insgesamt müssen wir fragen: Hat das Christentum in unserem Land seine Kraft verloren?
Ich befürchte, viele Menschen unserer Gesellschaft meinen: Das Christentum hatte lang genug Zeit, um zu zeigen, was in ihm steckt. Sie sind skeptisch, ob das alt gewordene Christentum noch die Kraft hat, sich wieder zu erneuern. Ich bin davon überzeugt, dass in ihm eine ewig junge Dynamik steckt. Vielleicht braucht es Ruhezeiten, in denen alles wie tot scheint. Auch dem Acker muss Ruhezeit gegeben werden, bis er wieder Frucht trägt. n Aber passt das ins Heute? Ich gebe zu: Das passt nur schlecht zu einer schnelllebigen Gesellschaft. Da will jeder immer sofort Erfolge und Früchte sehen. Geistliche Prozesse sind Wachstumsprozesse und die brauchen Zeit. Deswegen habe ich Hoffnung, dass der Protestantismus in Deutschland keineswegs am Ende ist. Ich würde uns allen ein bisschen mehr Selbstgewissheit und Vertrauen in die Zukunft wünschen.
Kann das Reformationsfest im Blick auf die Erneuerung des Christentums etwas leisten?
Das Reformationsfest besitzt viele Bedeutungsfacetten. Dadurch kann es leicht passieren, dass die entscheidende Facette, die Frage nach dem christlichen Glauben und seiner Gestalt, in den Hintergrund tritt. Immerhin: Das Reformationsfest bietet die Chance, sich auf den Ausgangspunkt zu besinnen. Und der bestand letztlich in der Frage nach dem Gottesverständnis. Im Zentrum stand für Luther die Frage, wie der Glaube an Gott gelebt wird. Noch präziser gesagt: Wie ist mit der Tatsache umzugehen, dass auch ein Christ in seinem Leben immer wieder versagt und schuldig wird. Diese Frage konnte fast 1500 Jahre lang in der Christenheit nicht gelöst werden.
Worin liegt die Erkenntnisleistung Luthers?
Luther beantwortete die Frage, als ihm aufging, dass Gott bereit ist – egal wie groß die Schuld ist –, sie immer wieder neu zu vergeben und dem Menschen ewiges Leben zu schenken, ohne eine Vorleistung vonseiten des Menschen. Diese Erkenntnis hat das damalige Europa bis in die Grundfesten hinein erschüttert. Menschen erfuhren, dass das Evangelium wirklich eine befreiende, froh machende Botschaft ist. Damit verbunden war ein neues Gottesbild. Ein Gottesverständnis, das im Mittelalter offensichtlich nur im Raum der Mystik bekannt war: ,Gott ist ein glühender Backofen voll Liebe‘, wie Luther sagt, und eben kein rächender Gott, vor dem man sich in Acht nehmen muss.
Was heißt das für uns heute?