Es gibt leidvolle Ereignisse, die viele in unserer Gesellschaft nicht persönlich betreffen – daran zu erinnern sei aber wichtig, sagt ein Experte. Das Literaturfestival Berlin widmet sich am Freitag solchen “Shared Trauma”.
Was sind wichtige historische Ereignisse in und für Deutschland? “Auf diese Frage sagen die meisten Deutschen als erstes NS-Zeit und Holocaust, als zweites Wende und Wiedervereinigung. In den letzten Umfragen taucht auch Corona auf als etwas, das uns im Gedächtnis bleiben wird”, sagt Sozialpsychologe Jonas Rees. Er forscht am Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) der Universität Bielefeld zu Erinnerungskultur.
Nicht dabei, wenn man tausend Deutsche am Telefon nach wichtigen historischen Ereignissen für Deutschland befragen würde, sind vermutlich: Die Entführung von 276 Schulmädchen der Terrorgruppe Boko Haram in Nigeria vor zehn Jahren. Dass die Uiguren in China seit Jahrzehnten unter staatlich organisierten Menschenrechtsverletzungen leiden. Und dass die islamistische Terrorgruppe Hamas am 7. Oktober vor einem Jahr an einem Tag mehr als tausend Israelis ermordet hat.
Das Literaturfestival Berlin erinnert am Freitag mit einer “Langen Nacht der Traumata” mit Lesungen, Musik und Theater an eben diese und andere traumatische Ereignisse, die keinen Hauptplatz in der institutionellen Erinnerungskultur haben. Sechs Stunden lang haben Autoren und Schauspieler das Wort und rücken unter dem Motto “Shared Trauma” durch Texte und Performances diese Gewalttaten ins Zentrum der Erinnerung.
Es sei ein wichtiger Beitrag, den solche Veranstaltungen leisten könnten – “auch jenen Erinnerungen ihren Platz einzuräumen, die vielleicht ansonsten drohen, in Vergessenheit zu geraten”, sagt Rees. Dass heiße ja nicht, “dass sie nicht für viele Menschen in Deutschland wichtig sind. Wir sind eine Migrationsgesellschaft, in der viele Erinnerungen ihren Platz brauchen, aber das spiegelt sich häufig noch nicht so wider in unserer institutionalisierten Erinnerungskultur.”
Der Besuch einer solchen Veranstaltung signalisiere eine persönliche Haltung zu diesen Ereignissen: “Sich bewusst für die Erinnerung daran Zeit zu nehmen, in meinem Alltag, in dem ich ja auch andere Dinge tun könnte – auf der Couch liegen und TV schauen, zum Beispiel. Das Signal ist also: Das ist mir wichtig.”
Zudem gebe es auch die Notwendigkeit kollektiver Erinnerung. “Mit einer solchen Veranstaltung kommunizieren wir eine soziale Norm. Das heißt nicht nur: Das ist mir wichtig, sondern, das sollte uns wichtig sein als Gesellschaft”, erklärt der Forscher.
Doch wem hilft der Besuch einer solchen Veranstaltung? Atmet man auf, wenn man die Veranstaltung verlässt und das Leiden hinter sich lässt – was Betroffene ja nicht können? Sorgt sie für einen Moment des Innehaltens, oder bedient sie gar voyeuristisches Ansinnen?
Mit Voyeurismus habe diese Veranstaltung seiner Einschätzung nach nichts zu tun – obwohl es so etwas in der Erinnerungskultur natürlich gebe, erklärt Rees. “So genannte ‘Dark Places’zum Beispiel – Orte, wo furchtbare Dinge geschehen sind und an die die Menschen bewusst im Internet erinnern oder sogar dorthin reisen. Wie das ‘Horrorhaus von Höxter’ zum Beispiel, das inzwischen abgerissen wurde.”
Zudem: Seiner Einschätzung und Erfahrung nach könne es Betroffenen “natürlich” helfen, wenn an ihr Leid erinnert werde, betont der Psychologe: “Zu sehen, es gibt andere Menschen, die nehmen Anteil und denen ist das wichtig, dass nicht vergessen wird, was uns oder mir widerfahren ist. So etwas kann eine unheimlich große soziale Kraft haben.” Es könne auch dazu beitragen, über das Erlebte zu sprechen und es dadurch besser zu verarbeiten.