Der Altbundespräsident mahnt, die Demokratie trotz ihrer Mängel mehr zu schätzen. Würden Rechtsextremisten bald eine Landesregierung stellen, könnten sie den Alltag des Landes erheblich verändern, warnt Gauck.
Der frühere Bundespräsident Joachim Gauck hat dazu aufgerufen, die Demokratie stärker wertzuschätzen und Rechtsextremisten nicht zu unterschätzen. “Mag sie auch nicht frei von Mängeln sein, so bleibt die Demokratie doch die beste Regierungsform, die wir kennen, und weltweit Zufluchts- und Sehnsuchtsziel der Unterdrückten”, sagte Gauck am Mittwochabend in Stuttgart bei einer Veranstaltung zum 75-jährigen Bestehen des Grundgesetzes.
“Ich wünschte, die jungen Menschen und diejenigen, die nie in Unfreiheit leben mussten, könnten eine liberale Demokratie neu oder wieder zu ihrer inneren Überzeugung machen”, sagte der frühere DDR-Bürgerrechtler. “Wer unsere Verfassung als Grundlage für ein selbstbestimmtes Leben und für politische Teilhabe erfasst hat, wird sie zu schätzen wissen und sie wehrhaft gegen ihre Feinde verteidigen wollen”, sagte Gauck.
Das Grundgesetz allein garantiere jedoch nicht, “dass unsere freiheitlich-demokratische Ordnung überlebt”, mahnte das ehemalige Staatsoberhaupt. “Das müssen wir uns in allem Ernst bewusst machen”, betonte Gauck. “Weder schützen uns Verfassungen davor, dass autoritäre Politiker an die Macht kommen, noch können Verfassungen eine Aushöhlung der demokratischen Prinzipien letztlich verhindern.” Gauck gab zu bedenken, dass autoritäre Politiker mehrheitlich gewählt und illiberale Veränderungen mit parlamentarischen Mehrheiten beschlossen werden könnten. “Die Demokratie braucht die Demokraten, damit sie widerstandsfähig ist”, sagte Gauck.
Der Altbundespräsident stellte infrage, ob das Grundgesetz und das Bundesverfassungsgericht “uneinnehmbare Hürden bei Angriffen auf unsere Demokratie” seien und sagte: “Bisher besaßen Rechtsextremisten keine Macht auf Landes- und Bundesebene. Doch aus den bevorstehenden Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg können sie als stärkste Fraktion hervorgehen.” Würden Rechtsextremisten – was “nicht wahrscheinlich, aber auch nicht völlig auszuschließen” sei – eine Landesregierung stellen, könnten sie “den Alltag des Landes bereits erheblich verändern”, warnte Gauck. Als Beispiele nannte er: “die Abschiebungen von Flüchtlingen vorantreiben, eine als Remigration getarnte Deportation von Migranten einleiten”, dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk die Finanzmittel kürzen und Einfluss auf Lehrpläne nehmen.
Die juristischen Hürden für ein Parteiverbot – das mit Blick auf die AfD diskutiert wird – lägen hoch, so Gauck. “Eine Verfassungsfeindlichkeit müsste der gesamten Organisation nachgewiesen werden.”
Verstärkt werde deswegen darüber nachgedacht, wie der Kampf gegen den Rechtsextremismus jenseits eines Parteiverbots geführt werden könne. “Etwa durch besseren Schutz für die Unabhängigkeit gerade von Institutionen wie dem Bundesverfassungsgericht”, sagte Gauck. Insbesondere die Verfassungsgerichte gehörten nämlich, wie Ereignisse in Polen, Ungarn, Israel und den USA gezeigt hätten, zu den ersten Institutionen, die manche Regierungen “in ihr autoritäres System einzubauen trachten”. Insofern erscheine es ihm “augenblicklich durchaus sinnvoll, die Position des Bundesverfassungsgerichts im Grundgesetz besser gegen extremistische Einflussnahme zu schützen”.
Gauck hielt die Festrede bei einer Veranstaltung im Haus des baden-württembergischen Landtags zum Thema “75 Jahre Grundgesetz”. Am 8. Mai 1949 wurde das Grundgesetz im Parlamentarischen Rat beschlossen und am 23. Mai 1949 offiziell verkündet.
Landtags-Präsidentin Muhterem Aras sagte, lange habe man in Deutschland gedacht, dass nichts das Fundament der Demokratie erschüttern könne. Inzwischen müsse man aber “die Sprache und die Ankündigungen von Demokratiefeinden sehr ernst nehmen”, sagte Aras. Anfeindungen, Morddrohungen und Übergriffe häuften sich. Es gelte daher: “Keine Toleranz für Extremismus.”