Artikel teilen:

Fussball im Abseits

Es läuft nicht rund beim Fussball

Wann wird dieses System gestürzt?

Von Anna Müller

In Berlin liegt Schnee, in Katar startet die Fußball-Weltmeisterschaft (WM) der Männer. Viel wird diskutiert: Darf man sie gucken? Hätte man die WM viel früher boykottieren müssen? Mein Problem: Damit wird ein systemisches Problem auf die moralische Entscheidung Einzelner reduziert. Denn die WM in Katar ist nur der Kristallisationspunkt vieler Fehlentwicklungen im Fußball.

Gerade im Profi-Männer-Fußball steht für viele das Geld im Mittelpunkt. Zum Beispiel: Während der FC Bayern München 102 Millionen Euro für sechs Spieler pro Jahr ausgibt, kostet der günstigste Sitzplatz 40 Euro (15 Euro der Stehplatz). Sportkneipen müssen einige Hundert Euro im Monat ausgeben, um mittels verschiedener Anbieter alle Bundes­ligaspiele zeigen zu können. Da ist es kein Wunder, wenn der Torjubel eher verhalten ausfällt – ach nein, Moment – wir müssen ja noch die Entscheidung der Videoassistent*- innen abwarten, ohne die geht es nicht mehr, es geht um zu viel Geld. Die Leidtragenden sind die Fans, ­deren Herz für den Sport schlägt, die mitfiebern, mitleiden und mitjubeln. Diejenigen, die die Teams in guten wie in schlechten Zeiten ­begleiten. Sie können sich das oft nicht mehr leisten.

Wenn also das Geld die Triebfeder ist und nicht der Sport, ist eine Vergabe der WM durch die FIFA nach Katar nur die ­logische Folge – mit allen bekannten Konsequenzen.

Die erste Winter-WM findet in klimatisiert Stadien statt, die nach oben offen sind, während alle Welt über die Klimakrise diskutiert. Diese Stadien mussten mangels Fußball-kultur neu gebaut werden. Bezahlt mit dem Leben Tausender Arbeiter. Und für Besucher*innen gilt: Zu­neigung nicht in der Öffentlichkeit zeigen, besonders nicht als gleichgeschlechtliches Paar. Für unverheiratete Schwangere empfiehlt das Auswärtige Amt gar im Falle eines Arztbesuches, zuerst die Botschaft aufzusuchen. Zudem ist es verpflichtend, die Corona-Tracking App Etheraz zu installieren. Sie dient auch zum Ausspähen.

Demokratie durch Sport?

Dabei soll die WM Verbesserungen bringen – Demokratie und Liberalisierung durch Sport-Großveranstaltungen. So soll es in Katar nun einen Mindestlohn geben und Arbeitgeber*innen dürfen die Pässe der Arbeitnehmer*innen nicht mehr einbehalten. Ob und wie nachhaltig das ist, wird man sehen, wenn die Fans wieder weg und die Kameras aus sind. Die Erfahrung nach der letzten WM in Russland ist jedenfalls eine andere.

Und wir hier in Deutschland? Wie werden uns moralisch gut fühlen, die WM nicht geschaut zu haben. Oder wir schauen sie, weil wir glauben, nichts ändern zu können. Denn: Wir individualisieren ein systemisches Problem. Die Frage sollte nicht sein – gucken oder boykottieren – die Frage muss lauten, wann ­dieses System gestürzt wird. Denn solange sich nichts ­ändert und das Geld bestimmt, wo der große Fußball stattfindet, stehen wir alle paar Jahre vor der gleichen Frage. Dabei liegen bessere Entscheidungskriterien doch nahe: Wo wird Fußball als Breitensport gut gefördert, wo wirkt der Sport integrierend und weltoffen und wo kann man gesellschaftliche Veränderungen unterstützen statt sie ­anstoßen zu müssen. Dadurch wird die Welt nicht automatisch gerechter, es wäre aber ein Schritt in die ­richtige Richtung.

Bis dahin und für die, die auf Fußball nicht verzichten wollen, sollte sich der Blick nicht nach ­Katar richten. Die Champions ­League der Frauen bietet gerade hochklassigen Fußball. Und ein Blick in die direkte Nachbarschaft lohnt sich auch. Bei 382 Vereinen in Berlin ­findet jede*r einen Ort zum Fußball gucken. Vielleicht nicht so professionell wie in Katar, dafür aber umso herzlicher.

Anna Müller ist im Vorstand der Aktiven Fans bei Tennis Borussia und Beraterin bei der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus.