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Früherer Nachrichtendienst-Chef über den (erzwungenen) Ruhestand

Es ist am Sonntag genau drei Jahre her, dass Christof Gramm (65) als Präsident des Militärischen Abschirmdienstes (MAD) von Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) in den vorzeitigen Ruhestand versetzt wurde. Eine Vollbremsung – aber dennoch sei er in kein Loch gefallen, sagt der philosophisch geschulte Verfassungsjurist im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA). Seitdem befasst sich Gramm intensiv mit der Frage, wie die Babyboomer ihren Ruhestand sinnvoll gestalten können.

KNA: Herr Gramm, Sie sind nach mehreren rechtsextremistischen Vorfällen in der Bundeswehr im September 2020 als Chef des MAD vorzeitig aus dem Amt ausgeschieden. Was macht so ein erzwungener Ruhestand mit jemandem, der beruflich so hochgeklettert ist?

Gramm: Das erste Gefühl: Ich war unglaublich erleichtert, dass ich diese Last der Verantwortung los war. Von 150 Prozent auf Null. Ich weiß noch genau, dass ich hier im Siebengebirge durch den Wald gelaufen bin und gespürt habe, wie diese körperliche Last von meinen Schultern abfiel. Wenige Tage darauf kam der Corona-Lockdown mit seinem erzwungenen Stillstand. Ich war also in einem doppelten Zwangsabklingbecken.

KNA: Sind Sie in ein Loch gefallen?

Gramm: Nein, es gab kein Loch und auch keine Kränkung über den Bedeutungsverlust. Natürlich ist es eine einschneidende Erfahrung, wenn man plötzlich so auf sich selbst zurückgeworfen ist. Aber all das, was über die Jahre liegengeblieben ist, hat völlig ausgereicht, um die neue Lebenssituation zu gestalten: Ich habe mich um meine Mutter gekümmert, viel gelesen und Sport getrieben, Literaturkreise und Debattierclubs gegründet, mich in der Kirchengemeinde engagiert…

KNA: Plötzlich so viel Zeit zu haben, ist für viele Menschen nicht einfach…

Gramm: Ich bin schon immer ein sehr disziplinierter Mensch gewesen. In meinem Job als MAD-Chef habe ich dann in einem besonders strengen Zeittakt gelebt. Diese unglaubliche Kette von Terminen und Aufgaben und Problemen bindet so viel Zeit, Geist und Gefühlswelten. Es hat ein gutes Jahr gedauert, bis ich gelernt habe, mich auch mal treiben zu lassen, nicht immer den Tag genau zu verplanen und eine Offenheit zu gewinnen – für andere Menschen, neue Gefühlswelten und auch Aufmerksamkeit für mich selbst.

KNA: Ein mühsamer Weg…

Gramm: Von einem Funktionsautomaten bis zu einem empfindenden Menschen, der seine Zeit gestalten kann, ist es ein langer Weg. Im politischen Berlin, in Parteien, Wirtschaft und auch den Medien habe ich so viele Menschen kennengelernt, die so massiv unter Druck stehen: In vielen Jobs ist das zwangsläufig so. Man wird zur Maschine.

KNA: Derzeit und in den kommenden Jahren geht die Generation der Babyboomer in Rente und Ruhestand. Was würden Sie denen raten?

Gramm: Der Abschied vom Berufsleben ist eine einschneidende Erfahrung. Man wird sich bewusst, dass jetzt die letzte große Lebensphase beginnt. Das Ende rückt ins Blickfeld. Wenn es gut läuft, hat man noch ein Zeitfenster von 15 bis 20 Jahren, das man – hoffentlich in relativ guter Gesundheit – gestalten kann. Wichtig ist für mich, nach vorn zu schauen und nicht zurück. In einer Gesellschaft, die sich stark über Erfolg, Status und Leistung definiert, brechen ja im Ruhestand nicht nur Kommunikationsnetze weg, sondern auch ein Stück Lebensinhalt und Sinn. Das Glücksversprechen, endlich frei zu sein von beruflicher Fremdbestimmung, zeigt oft schon nach ein paar Wochen Risse. Schnell ist der Garten umgegraben und das Wohnzimmer gestrichen. Gestern Leistungsträger, heute Hosenträger: Das geht aufs Selbstbewusstsein. Es braucht seine Zeit, in die neue Rolle hineinzufinden.

KNA: Aber wie kann der Rollenwechsel gelingen?

Gramm: Einen Führerschein für angehende Rentner gibt es ja nicht. Manche versuchen, einfach weiterzumachen. Sie übertragen ihr Leistungsethos und ihr Selbstbild ins Private. Der Tag wird akribisch strukturiert, Listen werden abgearbeitet, Sport wird mit Leistungsanspruch betrieben. Andere halten noch an der alten Berufswelt fest und versuchen, ihre Tätigkeit und ihre Bedeutung zu verlängern und eine Rolle am Rand zu ergattern. Das Arbeitsethos der Babyboomer ist meines Erachtens sehr groß. Wieder andere spielen 20 Jahre jünger und gehen in die Jugendfalle.

KNA: Es gibt also keine Einheitslösung?

Gramm: Dazu sind die Menschen zu verschieden. Aber aus meiner Sicht kommt es zuerst auf die innere Einstellung an. Der erste Schritt ist die Erkenntnis: Es ist nicht wichtig, dass ich nicht mehr wichtig bin. Wer zu Hause immer noch den Staatssekretär oder den Unternehmenschef spielt, bekommt Probleme – spätestens mit seinem Partner oder seiner Partnerin.

KNA: Und der zweite Schritt?

Gramm: Die zweite Erkenntnis wäre: Ich muss kein Profi (mehr) sein, um gut zu leben. Lernbereitschaft und der Luxus, liebgewordene Weisheiten und Gewohnheiten zu hinterfragen, können enorm bereichernd sein. Genauso wie mal bewusst etwas Neues auszuprobieren und Entdeckergeist zu entwickeln.

KNA: Das wäre dann der Übergang zum Handeln…

Gramm: Das wäre der dritte Schritt: Ich kann auch mal etwas für andere tun. Wer sich für andere öffnet, wird nicht einsam. Der erlebt viel Verbundenheit und Resonanz. Das kann durch Reisen, Gesprächskreise, Mitarbeit in Vereinen und Kirchen passieren. Und sollte auf jeden Fall ohne Perfektionismus und mit Gelassenheit geschehen. After Work werden wir die Welt vermutlich nicht mehr so stark prägen wie in den aktiven Berufsjahren. Es geht um eine stärker hinhörende und betrachtende Lebensweise. Vielleicht schaffen wir es ja auch, abgebrochene Linien in der eigenen Biographie wieder aufzunehmen: Ich kenne mehrere Menschen, die sich intensiv mit ihren Enkeln beschäftigen – weil sie es bedauern, sich um ihre Kinder zu wenig gekümmert zu haben. Vor diesem Hintergrund halte ich den Traum vom Rentnerparadies Mallorca für eine nur begrenzt gute Idee.

KNA: Die Enkel sind ein gutes Stichwort. Droht nicht ein Generationenkonflikt, wenn die Babyboomer künftig unendlich viel Zeit haben?

Gramm: Natürlich werden die Rentner künftig massenhaft die Innenstädte bevölkern, die Radwege mit E-Bikes füllen und die Parkbänke und Uni-Hörsäle besetzen. Das sieht die jüngere Generation durchaus sehr kritisch. Aber die Babyboomer haben es ja in der Hand, den Altersegoismus zu begrenzen und das Gespräch zu suchen. Schließlich haben wir auch viel anzubieten: Zeit, Erfahrungen und Mitarbeit, beispielsweise in Familien.