• Fortsetzung von Seite 1
zu gehen, das könnte eine der Erkenntnisse aus der Silvesternacht 2015 sein.
Aber: So überzeugend das klingen mag, es bleibt doch eine entscheidende Hürde dabei. Und die wird nicht so leicht zu nehmen sein: Sind wir uns denn bei diesen Regeln einig, auf die wir uns alle verpflichten? Im Fall der Silvesternacht dürfte das unstrittig sein. Gewalt gegen Frauen in Form des aggressiven Mobs – da wird jeder klar denkende Mensch sagen: Das geht gar nicht. Punkt.
Aber je weiter man ins Detail geht, je stärker man den Alltag in den Blick nimmt, desto mehr Situationen wird es geben, bei denen die Menschen sehr unterschiedlicher Meinung darüber sein können, welche Werte und Regeln gelten sollen. Das ist nicht nur eine Frage von Zuzug, unterschiedlichen Kulturen und Religionen. Sondern es liegt auch an der Dynamik, die grundlegend für die liberale, weltoffene Gesellschaft ist: Werte sind im Wandel. Stichworte zum Beispiel: gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaft. Sterbehilfe. Oder Gleichberechtigung von Frau und Mann in allen Lebensbereichen.
Es gibt keine ehernen, ewigen Werte. Die Menschen müssen sich immer wieder neu darauf verständigen, welche Regeln für sie gelten sollen. Und das ist das Problem: Was meinen wir zurzeit, wenn wir von „Wertegemeinschaft“ reden?
Wie aktuell und drängend diese Frage nicht nur im Blick auf die multikulturelle Situation in Deutschland ist, zeigt ein Blick auf Europa. Polen, Ungarn, abgestuft auch andere Staaten, zeigen eine besorgniserregende Entwicklung. Eine klare Tendenz weg von Rechtstaatlichkeit und Demokratie, hin zur nationalen Abgrenzung.
Interessanterweise beruft sich etwa Polen dabei ausdrücklich auf das „christliche Abendland“ – und entfernt sich de facto immer weiter von dessen grundlegenden Errungenschaften.
Bis vor wenigen Jahren galt Europa als Gemeinschaftsprojekt – zwar mit Kanten und Macken, alles in allem aber trotzdem vorbildlich für die Weltgemeinschaft. Dafür wurde es noch 2012 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet.
Als eigenständige Größe hätte ein geeintes Europa ein Garant des Friedens sein können, ein Ausgleich in der Spannung zwischen den bestehenden Machtblöcken. Ansatzweise war das bereits gelungen. Nach Wirtschaftskrise, Währungsdebatte und Zuwanderungsstreit ist davon momentan nur noch wenig zu sehen. Stattdessen zieht Europa die Grenzen hoch – und zwar nicht nur nach außen.
Sondern auch die im Innern, zwischen den Mitgliedstaaten.
Grenzen hochziehen ergibt aber keinen Sinn; darauf ruht kein Segen. Weder in Deutschland, zwischen den Bevölkerungsgruppen. Noch in Europa und zwischen seinen Mitgliedstaaten. Abgrenzung führt zu Verwerfung und Krieg, zu Leid, Tod und Zerstörung.
Vielleicht haben wir das wieder vergessen, weil die Schrecken der Weltkriege mittlerweile zu weit weg sind. Ein Leben in Frieden und Stabilität dagegen kann nur gemeinsam gelingen. Dabei werden alle Beteiligten Kröten schlucken müssen. Kompromisse schließen. Mit den Zähnen knirschen. Aber das ist die Herausforderung.
So abscheulich die Silvesternacht an vielen Orten war – vielleicht hilft sie, den Blick dafür freizubekommen, was jetzt für die nächste Zeit ansteht.