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Forschung am Puls der Zeit

Vom Pionier zum Routinier: Seit 75 Jahren erforscht das „Institut für Zeitgeschichte München – Berlin“ (IfZ) die deutsche Vergangenheit des 20. und 21. Jahrhunderts. Ins Leben gerufen wurde die Einrichtung 1949, im Gründungsjahr der Bundesrepublik, als „Institut zur Erforschung der nationalsozialistischen Politik“. „Das Hauptaugenmerk des Instituts lag anfangs auf der NS-Zeit, doch seit den 1990er-Jahren hat sich die Arbeit thematisch stark erweitert und internationalisiert“, erklärte IfZ-Direktor Andreas Wirsching. Heute reichten die Projekte vom Prozess der Deindustrialisierung über Terrorbekämpfung in Westeuropa bis hin zu den Folgen der Jugoslawienkriege. Ein Schwerpunkt bleibe aber immer die Forschung zur NS-Geschichte, so Wirsching – davon zeugt auch der „jüngste“ Ableger des IfZ, die 1999 begründete Dokumentation des Täterorts „Obersalzberg“ bei Berchtesgaden, deren Erweiterungsbau erst 2023 eröffnet wurde.

Ob Gerichtsgutachten wie das zum NPD-Verbotsverfahren 2013 oder Editionen wie die „Akten zur Auswärtigen Politik“: Von Anfang an sei das IfZ, das sein Jubiläum am Mittwoch (20. November) mit einem Festakt feiert, ein wichtiger Zulieferer für Ministerien und Behörden gewesen. Dennoch sei das durch öffentliche Mittel geförderte Institut „vollständig frei von politischer Einflussnahme“, betont Wirsching. „Bei der sogenannten Auftragsforschung gibt es ein klares Verfahren, das unsere wissenschaftliche Unabhängigkeit vertraglich sichert“, so der Inhaber des Lehrstuhls für Neueste Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

Dass es dabei auch manchmal knirscht, zeigt die kritische Edition von Hitlers Propagandaschrift „Mein Kampf“. 2012 hatte sich der bayerische Landtag nach langen Diskussionen entschlossen, das IfZ bei einer kommentierten Ausgabe zu unterstützen. Ein Jahr später machte der damalige Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) einen Rückzieher: Er könne keinen NPD-Verbotsantrag stellen und gleichzeitig „das Staatswappen für die Verbreitung von ‚Mein Kampf‘ hergeben“, wurde der Politiker zitiert. Die Staatsregierung drohte dem IfZ, das auf eigene Rechnung weiterforschen wollte, sogar eine Strafanzeige wegen Volksverhetzung an, sollte es die Edition veröffentlichen. Am Ende der Querelen erschienen die knapp 2000 Seiten in zwei Bänden 2016 wie geplant.

Die NS-Zeit beschäftigt das Institut jedoch auch auf einer anderen Ebene: Sein Direktor Helmut Krausnick (1905-1990), der das Institut von 1959 bis 1972 leitete, war selbst ab 1932 Mitglied der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP). Krausnicks Amtsnachfolger Martin Broszat (1926-1989) wiederum war noch im Februar 1944 in die NSDAP eingetreten – erst 2003 wurde das öffentlich und stellte viele Äußerungen des Historikers infrage, gerade im Bezug auf eine objektive Betrachtung des NS-Regimes.

Die NS-Vergangenheit der Instituts-Größen und ihre Auswirkung auf deren Forschung könne man jedoch nicht selbst aufarbeiten, betont IfZ-Direktor Wirsching. Das habe nun die Forschungsstelle Zeitgeschichte in Hamburg mit dem Projekt „NS-Aufarbeitung im Zeichen ‚nüchterner‘ Sachlichkeit? Wissenschaftliche Praxis und Wissensproduktion am Institut für Zeitgeschichte von 1945 bis 1989“ übernommen. „Wir haben ein sehr transparentes Hausarchiv, das Forscherinnen und Forschern zur Verfügung steht“, sagt Wirsching: „Unsere Türen sind offen.“

Derweil das IfZ so selbst zum Forschungsgegenstand wird, geht die Forschung am Institut weiter. Im Archiv warten zahlreiche Schätze auf ihre Entdeckung, darunter der umfangreiche Nachlass von Ilse Aicher-Scholl, der Schwester von Hans und Sophie Scholl, sowie der Nachlass Hildegard Hamm-Brüchers, der Grande Dame der FDP, oder Dokumente zur Deutschen Frauenbewegung. Interessant werde Geschichte immer dann, „wenn neue Generationen neue Fragen stellen oder wenn es neue Quellen gibt“, sagt der Historiker. Und stets gebiert die Gegenwart neue Forschungsgegenstände: „Ich bin mir sicher, dass die Ampelkoalition inklusive ihres Scheiterns in 20 bis 30 Jahren in der Geschichtswissenschaft eine Rolle spielen wird“, prognostiziert Wirsching. (00/3647/19.11.2024)