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Fest der Thora-Freude in Israel ein Jahr nach dem Hamas-Angriff

2023 wurde der jüdische Feiertag Simchat Thora durch den Hamas-Terror zum schwärzesten Tag der Geschichte Israels. Wie feiern man dort nun – ein Jahr nach dem Angriff?

Trauerflor statt Festgewand – oder doch ein entschiedenes “jetzt erst recht”: Vor dieser Frage standen in den vergangenen Wochen zahlreiche jüdische Gemeinden in Israel. Am Fest der Thora-Freude (Simchat Thora) vor einem Jahr ermordeten Terroristen der Hamas knapp 1.200 Menschen. Es begann ein bis heute andauernder Krieg. Wie feiert man nun ein Fest der Freude, wenn das Datum zum schwärzesten Tag der jüdischen Geschichte seit dem Holocaust geworden ist?

Bis 2023 galt: Simchat Thora ist laut und bunt. Mit Gesang, Tanz und Bonbons für die Kinder werden Thora-Rollen durch die Synagogen und manchmal auch die Straßen getragen. In sieben Runden (Hakafot) feiern Juden ausgelassen das jährliche Ende und den gleichzeitigen Anfang des Lesezyklus, zum Zeichen, dass Gottes Wort und Gesetz keinen Anfang und kein Ende haben.

Auch 2024 gibt es sie: die Gemeinden, die an dem Gebot des freudigen Festes festhalten. Unter Jubel reichen die Mitglieder der orthodoxen Nitzanim-Synagoge im gediegenen Westjerusalemer Stadtviertel Baka die Thora-Rollen durch ihre Reihen. Ihr lauter Gesang ist von weitem zu hören. Im Nachbargebäude, der reformjüdischen Synagoge “Kol HaNeschama”, übertönt er in manchen Momenten die deutlich leiseren Töne der dortigen Gemeinde.

“Es gab unter den Reformrabbinern eine große Auseinandersetzung, wie wir Simchat Thora dieses Jahr feiern sollen”, sagt Debbie Schoua-Haim. Vom Nicht-Feiern bis zum unveränderten Festhalten an der Tradition reichten die Positionen laut der Reformrabbinerin. In “Kol HaNeschama” hat man einen Mittelweg gewählt. “Zwei der sieben Hakafot werden optimistischer sein, die anderen aber einen zurückhaltenden Ton haben”, so Schoua-Haim.

Es sei das, was die Menschen in dieser schwierigen Zeit brauchten, meint sie. Man müsse einfach weiterleben. Denn: “Wir haben nicht das Recht, es nicht zu tun.” Gemeinschaft und Besinnung auf sich selbst seien eine Hilfe, den Spagat zwischen Schmerz und Freude zu ertragen. “Alle Herzen sind zerschmettert, und wir sind weit entfernt davon, die Splitter zu sammeln und zusammenzufügen. Deshalb müssen wir Raum für sie schaffen in unsrer Brust”, sagt die Rabbinerin. Die Gemeinde sei dabei so etwas wie eine archäologische Ausgrabung, die alle Splitter zur Bestandsaufnahme an die Oberfläche bringe.

“In diesem Raum sind viele gebrochene Herzen”, sagt auch Gemeinderabbiner Oded Mazor und entzündet eine Kerze im Gedenken an die Opfer des 7. Oktober 2023 und des nachfolgenden Kriegs. Komplex und schmerzhaft sei dieser Tag, Freude und Schmerz miteinander verflochten. Die gemeinsame Feier solle allen Raum bieten für Emotionen. Trost, Hoffnung und am Ende auch etwas Freude erhoffe er sich von dem Fest.

Der Sorge und dem Gebet, der Heimat und der Sehnsucht, dem Geben und Ehrenamt, der Rettung der Entführten und dem Frieden sind die fünf stilleren Hakafot gewidmet, bei denen die Versammelten im großen Kreis zusammenstehen und die Thora-Rollen kreisen lassen. Immer wieder verharren einzelne Teilnehmer in inniger Umarmung des Buches. Dazwischen: zwei Runden des Tanzes und der Freude, für die Kinder, für die Hoffnung und für den Glauben an eine andere Zukunft.

Die Freude an Simchat Thora sei ein Gebot, sagt Rabbiner Levi Weiman-Kelman, einer der Gründer der Gemeinde. “Aber keiner weiß, wie das geht, gleichzeitig zu feiern und zu weinen.” Immer wieder laufen an diesem Abend Tränen über die Gesichter von Betenden.

Es ist nicht das erste Mal, dass Gewalt einen jüdischen Feiertag überschattet. 1973 brach zum höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur ein erbitterter Krieg zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn aus. Damals sei es relativ einfach gewesen, den Schmerz des Kriegs mit Fasten des Versöhnungstags in Einklang zu bringen, sagt der Jerusalemer Jossi Schwarzfuchs. Wenn das Fest mit dem Wort “Freude” beginne, sei dies schon schwieriger. Rabbiner Weiman-Kelman stimmt zu. “Im Jom-Kippur-Krieg herrschte das Gefühl, dass wir das überstehen können. In der jetzigen Situation sieht niemand einen Weg. Wir stecken mitten in lähmendem Schmerz und Wut, und keiner bekommt seinen Kopf heraus.”

Es ist Zeit für die letzte, die siebte Runde. Sie ist dem Thema Frieden gewidmet, eine Tradition, die lange vor dem 7. Oktober 2023 Einzug in die reformjüdische Gemeinde gehalten hat. Die Betenden bilden einen großen Kreis. Die Klänge sind getragen. Thora-Rollen wandern langsam von Arm zu Arm. Dann werden sie zurück in den Schrein getragen. Ein letztes Gebet. Es gilt erneut jenen, die unschuldig in diesem Krieg ihr Leben verloren haben. Während es in den Nachthimmel verhallt, dringen die fröhlichen Gesänge von nebenan in den Raum.