Der Krieg im Gazastreifen führt in Israel auch zu Nachdenken über die eigene Identität. Als besonnene Stimme meldet sich nun ein früherer Leiter des Inlandsgeheimdienstes zu Wort.
Eine der großen Fehleinschätzungen Israels ist nach Meinung von Ami Ajalon, Ex-Chef des Inlandsgeheimdienstes Schin Bet, dass die Palästinenser kein Volk seien. Palästinenser definierten sich als Volk und “sind bereit, für ihre Unabhängigkeit zu töten und getötet zu werden”, sagte er der Zeitung “Haaretz” (Mittwochabend). Terroristen, die getötet werden, würden in den Augen der Palästinenser zu Märtyrern.
Als israelische Strategie für nach dem Krieg sprach sich Ajalon dafür aus, den palästinensischen Hoffnungsträger und Fatah-Politiker Marwan Barghouti freizulassen. Marghouti wurde 2004 wegen der Beteiligung an mehreren Anschlägen zu fünffach lebenslänglicher Haft verurteilt und sitzt seither im Gefängnis. Barghouti sei der einzige Palästinenserführer, “der gewählt werden und eine vereinte und legitime palästinensische Führung auf einen Weg der einvernehmlichen Trennung von Israel führen kann”, so Ajalon.
Ein entsprechendes Gesamtabkommen mit den Palästinensern müsse gleichzeitig die Rückkehr aller in den Gazastreifen entführten Geiseln beinhalten, so der frühere israelische Marinekommandeur. Anders als frühere Kriege werde die gegenwärtige Gaza-Kampagne “kein Bild des Sieges” haben. Die Rückkehr der Geiseln käme einem solchen Bild allerdings am nächsten. Die gegenwärtige Militäraktion im Gazastreifen sei kein eigener Krieg im eigentlichen Sinne, “sondern ein weiterer Feldzug” im seit 140 Jahren anhaltenden Krieg um die israelische Unabhängigkeit.
Diesen Krieg habe Israel im Prinzip 2002 gewonnen, als der Gipfel der Arabischen Liga in Beirut für eine Anerkennung Israels, für Verhandlungen und für einen Frieden mit Israel stimmte. Jedoch habe sich Israel geweigert, seinen eigenen Sieg anzuerkennen, und habe “den Krieg zu einem Selbstzweck gemacht”, so Ajalon. Damit habe das Land der Debatte um die Frage ausweichen wollen, “was wir als Volk in diesem Land sein wollen”. Israel sei sich nicht einig, was seine verbindenden Werte sind und welchen Weg es gemeinsam gehen wolle. Deshalb führe es weiter Kriege, was die die Gefahr eines Bürgerkriegs abwende und die gespaltene Gesellschaft davon abhalte, sich gegenseitig zu bekämpfen.
Israel steht nach Worten des früheren Geheimdienstchefs vor einer Entscheidung zugunsten eines “jüdischen und demokratischen Israel im Geiste der Unabhängigkeitserklärung” oder einer “messianischen Perspektive, die die Grenzen der Realität nicht anerkennt”. Letztere werde von jenen verfolgt, die an die Besatzung als Sicherheitsfaktor glauben oder daran, dass Israel nicht das Recht habe, Teile des Landes aufzugeben. Dies würde zu einer Ein-Staaten-Lösung führen, in der Israel letztlich seine jüdische und demokratische Identität verlöre, so Ajalon.