Samuel Harfst und Britney Spears, Orgelkonzert und DJ-Segen, Feierabendmahl und Vulvenmalen – all das war Kirchentag in Dortmund.
Von Nora Tschepe-Wiesinger
Bei der Aftershowparty im Zentrum Jugend gibt es keine Schlange vor der Tür. Keine abschätzenden Blicke vom Türsteher, kein „Du kommst hier heute nicht rein“. Stattdessen ein: „Hallo, schön, dass du da bist.“ Beäugt werden nur diejenigen, die ihr Handy in der Hand halten: „Legt doch mal das Handy weg und tanzt!“, rufen die Pfadfinderinnen und Pfadfinder, die anstelle eines Türstehers am Eingang des Grammophon-Clubs in Dortmund stehen, zwei Mädchen zu, die gerade ein Selfie auf Instagram posten wollen. Irritiert blicken die Jugendlichen auf – und tanzen: die zwei Mädchen mit den High-Waist-Jeans und bauchfreien Tops ebenso wie die Jungen mit den Dreiviertelhosen und Sandalen; der Junge, auf dessen T-Shirt „Jack und Jesus“ statt „Jack und Jones“ steht, und das Mädchen mit dem langen Zopf, das sich ein Kreuz in den Nacken hat tätowieren lassen. Der „DJ der guten Laune“ legt auf, er sieht aus wie Peter Lustig mit langen Haaren. Als er gerade „I feel good“ von James Brown spielt, kommt er von seinem DJ-Pult herunter, klatscht in die Hände, dreht sich, stampft mit den Füßen, hakt sich bei einem der Jugendlichen unter. Er hat gute Laune – das Publikum auch.
Fünf Tage lang hat sich Dortmund angefühlt wie der Familienzeltplatz auf dem europaweit bekannten Musikfestival „Fusion“ in Mecklenburg-Vorpommern, das regelmäßig mit elektronischen Beats begeistert: überall Menschen, überall Musik, überall Liebe. In Dortmund umarmten Jugendliche mit „Free Hugs“-Schildern (kostenlose Umarmung) jede und jeden, der ihnen auf dem Weg vom Westfalenstadion zur U-Bahn entgegenkam, Mütter tanzten mit ihren Kindern vor Bühnen, von denen Musiker Luftballons in den blauen Himmel steigen ließen. Im selbstgezimmerten Baumhaus im Fredenbaumpark konnte man lernen, wie man selbst ein Baumhaus baut, und Folienkartoffeln am Lagerfeuer essen.
Bedford-Strohm fordert offene Häfen und Städte Und doch war etwas in Dortmund anders als bei der „Fusion“: Die Jugendlichen mit den „Free Hugs“-Schildern trugen Ketten mit kleinen Kreuzanhängern, Mütter und Kinder tanzten zu A-cappella-Versionen von „Lobe den Herrn, meine Seele“ und am Lagerfeuer wurde vor dem Essen gebetet. Fünf Tage lang wurde in Dortmund Kirchentag gefeiert – in Hallen, im Stadion und unter freiem Himmel.Es war ein Kirchentag, der bunt, vielseitig und politisch war. Der gezeigt hat, dass Kirche und gute Laune kein Widerspruch sein müssen. Dass Kirche Feste feiern und sich deutlich politisch positionieren kann. Der EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm wandte sich anlässlich des Weltflüchtlingstags am 20. Juni an den Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) und forderte offene Häfen und Städte in Europa und ein Ende des Flüchtlingssterbens auf dem Mittelmeer. Europa verliere seine Seele, wenn so weitergemacht werde wie bisher, sagte Bedford-Strohm in der vollen Dortmunder Westfallenhalle. Angestoßen vom Grünen-Europa-Politiker Sven Giegold verabschiedete der Kirchentag die Resolution „Schicken wir ein Schiff“, in der der Kirchentag die EKD auffordert, ein eigenes Rettungsschiff ins Mittelmeer zu schicken. Direkte Taten auf Worte folgen lassen – wenn Kirche sich so verhält, wirkt sie glaubwürdig und schafft das nötige Vertrauen, von dem auf dem Kirchentag überall gesprochen wird.Der Journalist Heribert Prantl, bis Februar Leiter des Meinungsressorts der „Süddeutschen Zeitung“, machte in seinem Vortrag „Ängstigt euch nicht“ Mut, sich nicht zu fürchten in einer Welt, in der gerade alles zum Ängstigen sei: Klimawandel, Sozialabbau, Rechtsruck in Europa, Kriegsdrohungen. Hätten die Jünger Jesu nach dem Pfingstwunder kein Vertrauen, sondern Angst gehabt, „würden wir hier jetzt nicht sitzen“, sagte er am Freitag auf dem Kirchentag.
Gemeinsam Schabbat feiernVertrauen war das Motto des Kirchentages. Auch beim interreligiösen Workshop „Abraham to Go“ des „Abrahamhauses“ aus dem Ruhrgebietsstädtchen Marl ging es darum. Das Projekt „Abrahamhaus“ will mit Ausstellungen und Workshops zum besseren Verständnis zwischen den drei abrahamitischen Weltreligionen Judentum, Christentum und Islam beitragen. Lilia Vishnevetska von der Jüdischen Kultusgemeinde in Marl feierte am Freitagabend mit den Kirchentagsbesucherinnen und -besuchern Schabbat. Nazife Güner aus der IGMG Kuba Moschee erklärte die fünf Säulen des Islam und Pfarrer Roland Wanke von der Stadt-Kirchengemeinde Marl sprach anschließend mit den Workshopteilnehmenden über vermeintlich fehlende Regeln und Riten im Christentum und sein Verständnis einer liberalen Theologie: „Ich maße mir nicht an, zu behaupten, genau verstanden zu haben, wie Gott ist und was er für richtig und falsch hält“, antwortete er einem Kirchentagsbesucher auf die Frage, was er denn unter liberaler Theologie verstehe.Dass der Kirchentag zu liberal sei, wird seit jeher aus der konservativen Ecke von Freikirchlern und Evangelikalen kritisiert. Für Aufregung hatten dieses Mal im Vorfeld des Kirchentags bei verschiedenen Gruppen Workshops wie „Vulven malen“ und „Gottes Segen in der Transition (Geschlechtsumwandlung) spürbar erleben“ gesorgt. Die AfD, deren Politiker vom Kirchentagspräsidium von allen Podien ausgeladen worden waren, nannte die Veranstaltungen auf dem Presseportal der AfD-Fraktion im Bundestag „skandalös“. „Der Kirchentag hat mit Kirche leider nicht mehr viel zu tun. Hier wird mehr der Zeitgeist als der Heilige Geist verherrlicht“, hieß es auf dem Portal.Dass der Kirchentag mit der Zeit geht, hat er in Dortmund bewiesen. Aber auch, dass sich diese Zeit mit Gott verbinden lässt. Im Zentrum Bibel konnten Jugendliche Psalm 23 im PC-Spiel „Minecraft“ bauen und die grüne Aue und das frische Wasser mit würfelförmigen Blöcken am Computer erstellen. Im Zentrum Jugend gab es jeden Abend einen DJ-Abendsegen unter einer Disco-Kugel. Auf dem Markt der Möglichkeiten wurde eine App für die Konfirmandenarbeit vorgestellt und es gab eine kirchentagseigene App zum Liedersingen.