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Bavendamm: Erinnerung an Vertreibung ist überfällig

Berlin (epd). Das Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung soll 2021 eröffnet werden. Jahrelang gab es zuvor Streit über die inhaltliche Ausrichtung. Stiftungsdirektorin Gundula Bavendamm sieht inzwischen alle Klippen erfolgreich umschifft, wie sie im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) deutlich
macht.

epd: Zu Ihrem Amtsantritt hieß es 2016, die Ausstellung wird 2019 eröffnet. Jetzt heißt es auf der Homepage der Stiftung 2021. Wann geht es denn los?

Bavendamm: Mitte Juni, also vor der Parlamentspause, wollen wir spätestens eröffnen. Es wird sehr stark gewünscht – nicht nur von der Politik, auch wir selbst wünschen uns das – noch vor der Sommerpause fertig zu werden. Das Eröffnungsdatum wird sich voraussichtlich im Januar klären.

epd: Bevor Sie das Amt als Direktorin übernommen haben, gab es etliche Aufregungen um die Stiftung. Hat sich das gelegt?

Bavendamm: Mir ging es zunächst darum, dass die Stiftung aus dem Wind gedreht wird, wir uns intern, auch in den Gremien neu aufstellen. So ist beispielsweise ein neuer wissenschaftlicher Beraterkreis entstanden. Das war auch eine Chance. Mir war wichtig, dass ich nicht nur Historiker in diesem Gremium sitzen habe, sondern auch Museumspraktiker und -praktikerinnen. Ich habe den Frauenanteil etwas erhöht. Es ist uns auch gelungen, wieder einen polnischen Historiker dafür zu gewinnen. Allerdings war durch die Konflikte um die Stiftung auch die produktive Arbeit auf der Strecke geblieben. Wir haben unsere Personalkapazitäten dann auf das große Projekt konzentriert, um die Institution auf ein besseres Gleis zu setzen.   

epd: Im 20-köpfigen Stiftungsrat sind die Vertriebenen gut vertreten. Neben sechs Vertretern des Bundes der Vertriebenen (BdV), finden sich dort unter anderem auch der Parlamentarische Staatssekretär aus dem Bundesinnenministerium und zugleich BdV-Vizepräsident, Stephan Mayer (CSU) und der CDU-Bundestagsabgeordnete und Vorsitzende der Gruppe der Vertriebenen, Eckard Pols, wieder. Welche Rolle spielten die Vertriebenen-Vertreter in den vergangenen vier Jahren beim Neuaufbau der Stiftung?

Bavendamm: Alle unsere Konzepte sind in dem Rat diskutiert und beschlossen worden. Dort sitzen ja nicht nur BdV-Vertreter. Es gibt auch vier Vertreter der Kirchen, zwei des Zentralrates der Juden, zwei Museumsdirektoren sowie weitere Parteienvertreter. Ich habe es also mit einem sehr gemischten Chor zu tun. Ziel unserer Diskussionen ist es, dass letztlich alle die Beschlüsse mittragen können. Und das ist uns bislang offensichtlich gelungen.

epd: Die Stiftung ist ja ein Kind unter anderem der ehemaligen BdV-Chefin und CDU-Hardlinerin Erika Steinbach, die das Projekt vor 20 Jahren angestoßen hat. Die Stiftungskonzeption gibt es seit 2012. Inzwischen ist mit Bernd Fabritius ein im Vergleich zu Steinbach sehr viel moderater auftretender Politiker Präsident des BdV. Wie hat sich das auf Ihre Arbeit ausgewirkt?

Bavendamm: Die großen Schlachten sind ja vor meiner Zeit geschlagen worden: Also die Frage etwa, wie ist es darstellbar, dass die Deutschen im Kontext von Flucht und Vertreibung zugleich Täter und Opfer sind; wie kann so etwas ausgestellt werden, ohne dass schiefe Vergleiche oder Relativierungen entstehen. Die Konzeption stand somit in ihrer ganzen Ausgewogenheit schon, als ich 2016 anfing. Auf dieser Grundlage haben wir dann weitere Konzepte im Detail entwickelt: für die Dauerausstellung, für die Bibliothek und das Zeitzeugenarchiv sowie für die Bildungs- und Vermittlungsarbeit und zuletzt – aktuell Anfang November – für den Raum der Stille.

epd: Wie zeitgemäß ist es heute noch, an die Vertreibung der Deutschen aus Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa zu erinnern?

Bavendamm: So zeitgemäß wie nie. Zum einen ist unsere Gesellschaft jetzt endlich reif, sich diese Institution zu geben. Das war überfällig, nach den großen Kämpfen der Vergangenheit über eine adäquate Erinnerung an die Vertreibung der Deutschen. Das andere ist, dass wir spätestens seit 2015 das Thema Flucht wieder auf der politischen Agenda haben, bis in unsere Wohnzimmer und Freundeskreise hinein. Das ist der Resonanzraum, in den wir uns stellen.

epd: Welche Geschichte wollen Sie in der Dauerausstellung erzählen?

Bavendamm: Wir stellen Flucht und Vertreibung der Deutschen am Ende des Zweiten Weltkrieges in einen zweifachen Kontext: in die NS-Geschichte und in die Geschichte der Zwangsmigrationen des 20. Jahrhunderts. Um Flucht und Vertreibung historisch zu erfassen, muss man wissen, was vorher passiert ist: Dass es einen NS-Staat gegeben hat mit einer rassistischen Ideologie, einer rassistisch-expansiven
Außenpolitik, die in einen verbrecherischen Krieg, in Besatzungsherrschaft und am Ende in den Holocaust mündet – das muss man miterzählen.

epd: Was ist aber das Besondere an der Zwangsmigration der Deutschen?

Bavendamm: Das eine ist die schiere Größenordnung. Wir sprechen von etwa 14 Millionen Menschen. Das ist die größte Gruppe im 20. Jahrhundert, die in Europa von einer Vertreibung betroffen war. Wir sehen uns deshalb auch nicht als neue Spielart eines Migrationsmuseums, sondern beziehen uns bewusst auf den Begriff Zwangsmigration. Der wiederum hängt eng mit dem Konzept des ethnisch-homogenen Nationalstaat zusammen, wie es im ausgehenden 19. Jahrhundert entwickelt wird. Zwangsumsiedlungen wurden in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts international als legitime Mittel zur Befriedung innerstaatlicher und zwischenstaatlicher Konflikte gesehen. Bei den Deutschen kommt noch die Besonderheit hinzu, dass in den betroffenen Gebieten, die das Deutsche Reich verliert, nicht etwa eine Minderheit, sondern die Mehrheitsbevölkerung vertrieben wird.  

epd: Wie wollen Sie das in der Ausstellung präsentieren?

Bavendamm: Es gibt erstaunliche Zeugnisse, die wir in den vergangenen Jahren zusammengetragen haben. Jedes einzelne Relikt ist eigentlich ein Wunder, dass es überhaupt möglich war, es mitzunehmen. Wir zeigen etwa einen großen Fuhrwagen, den die Familie auch nach der Flucht noch genutzt hat und irgendwann dann selbst musealisiert hat, indem er nur noch für Familienfeste aufgebaut wurde. Familienschicksale, die Erinnerungskultur gerade in Westdeutschland, aber auch personelle Kontinuitäten von NS-Funktionären, die sich nach 1949 in Landsmannschaften engagierten, werden thematisiert. Auch Ausschnitte aus Privat- und Dokumentarfilmen sind zu sehen. Überhaupt ist die Integrationsgeschichte der 12,5 Millionen Vertriebenen, die in Deutschland letztlich ankommen, ein wichtiger Teil der ständigen Ausstellung.

epd: Kommt die DDR auch vor?

Bavendamm: Wir machen die Unterschiede zwischen Ost und West deutlich. Vertriebene in der DDR, sogenannte Umsiedler, mussten unter völlig anderen Umständen mit ihrem Schicksal fertig werden als Vertriebene in der Bundesrepublik. Das hat etwas mit dem Kalten Krieg und der engen Anbindung an die Sowjetunion zu tun. Schließlich hat die DDR schon 1950 die Oder-Neiße-Grenze anerkannt und damit einen Schlussstrich unter die Vertreibungsgeschichte gezogen. Außenpolitisch war das Thema damit vom Tisch und der Auftrag an die Vertriebenen lautete: Assimiliert euch bitte! Allerdings gab es auch in der DDR sozialpolitische Instrumente als Ausgleich für den erlittenen materiellen Verlust. Aber große Vertriebenentreffen wie im Westen durften nicht stattfinden. Zeitweise trafen sie sich 'undercover', etwa im Leipziger Zoo.

epd: Welche Rolle spielen andere Migrationsbewegungen in der Ausstellung?

Bavendamm: Wie gesagt, bei uns geht es um Zwangsmigration, staatlich forcierte, oftmals gewaltsame Vertreibungen. In der Dauerausstellung widmen wir uns etwa dem Genozid an den Armeniern, der Vertreibung von Griechen und Türken in den 1920er-Jahren und der Lage der europäischen Juden vor dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust. Aber auch die Jugoslawien-Kriege der 1990er Jahre mit den sogenannten ethnischen Säuberungen, die Flucht vor dem syrischen Bürgerkrieg und
die Vertreibung der Rohingya in Myanmar sind bei uns Thema.