Am 9. September 2000 begann mit dem Attentat auf Enver Simsek die rechtsextreme Mordserie des NSU. Heute erinnert ein Platz in Nürnberg an ihn. Doch viele Fragen seiner Familie sind bis in die Gegenwart unbeantwortet.
Der Blumengroßhändler Enver Simsek sortierte vielleicht gerade Pflanzen auf der Ladefläche seines Transporters, als er von mehreren Schüssen lebensgefährlich verletzt wurde. Zwei Tage nach dem Attentat verstarb der Ehemann und Vater zweier Kinder mit 38 Jahren. Simsek war das erste Opfer des “Nationalsozialistischen Untergrunds” (NSU), jener rechtsextremen Terrorgruppe, die neun Kleinunternehmer mit Wurzeln in der Türkei und Griechenland sowie eine Polizistin ermordete. Simsek wurde vor 25 Jahren – am 9. September 2000 – in Nürnberg niedergeschossen.
Seine Familie musste besonders lange mit der Ungewissheit leben, wer ihn ermordet hatte – und warum. Erst 2011 flog der NSU auf, nachdem Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos tot aufgefunden wurden, ein Bekennervideo auftauchte und Beate Zschäpe sich der Polizei stellte. Die Wahrheit kam ans Licht – etwas, worauf die Familie Simsek kaum noch zu hoffen gewagt hatte. Die Jahre zuvor waren eine Tortur für die Familie: Denn sie und ihr Umfeld rückten rasch selbst in den Blick der Ermittler. Nachdem die Polizei zunächst vermutete, Simseks Frau stecke hinter dem Mord, hielt sich bei ihr jahrelang der Verdacht, der Ermordete sei weniger in Blumen- als in Drogengeschäfte verwickelt gewesen.
“Die Ermittlungen infizierten sein Leben nachträglich. Es war paradox: dass er brutal ermordet worden war, verwandelte meinen Vater posthum in einen Verdächtigen”, schreibt Semiya Simsek in ihrem Buch “Schmerzliche Heimat”. Sie schildert, wie die verschiedensten Spuren der Ermittler und aller betriebener Aufwand über Jahre zu nichts führten: “Was immer die Ermittler anfassten, es zerfiel ihnen unter den Fingern.”
Dennoch schlossen alle Beteiligten damals eine Ermittlungsrichtung offenbar kategorisch aus. “Im Laufe der Jahre warfen wir immer wieder ein: Könnte Ausländerfeindlichkeit das Motiv gewesen sein? Jedes Mal lautete die schnelle, stereotype Antwort: Wären es Rechtsextreme gewesen, hätten sie ein klares Bekennerzeichen hinterlassen, zum Beispiel ein Hakenkreuz”, schreibt Simsek.
Für die Anwälte der Familie ist klar: “Die Familie Simsek wurde nicht nur zu Opfern des NSU, sondern auch der staatlichen Behörden, ihrer Fehler und Voreingenommenheit, ihrer Blindheit auf dem rechten Auge, ihrer Vertuschungen”, schreiben Stephan Lucas und Jens Rabe im Nachwort. Der NSU und seine Mordserie – er offenbarte ein Versagen der Behörden ungeahnten Ausmaßes, und er stellte auch die Bundesrepublik vor unangenehme Fragen: Wie offen und integrationsfähig ist die Gesellschaft? Sind Menschen mit Migrationsgeschichte gar Mitbürger zweiter Klasse, deren Schicksal die Mehrheitsgesellschaft weniger berührt?
Nach rund fünf Jahren Prozess wurde die einzige Überlebende des Terror-Trios, Zschäpe, 2018 zu lebenslanger Haft mit besonderer Schwere der Schuld verurteilt – das bedeutet mindestens 15 Jahre Freiheitsentzug. “Ich find es auch immer noch leider traurig, dass viele Jugendliche die NSU-Opfer nicht kennen”, sagt Simseks Tochter Semiya Simsek in einem Video des Portals “Orte des Erinnerns Nürnberg”. “Der eine oder andere kann mit dem Namen Zschäpe was anfangen, aber mit Enver Simsek zum Beispiel gar nichts.”
Bis heute seien für sie noch viele Fragen offen und beschäftigten sie: Warum ausgerechnet mein Vater? Nach welchen Kriterien wurden diese Opfer ausgesucht? Warum ermittelt man nicht gegen die Helfershelfer? “Der Prozess hat nur wenig dazu beigetragen, das abzuschließen. Für mich ist es nicht abgeschlossen”, sagt Semiya Simsek.
Dass die Rechtsterroristin Zschäpe vor wenigen Wochen in ein Aussteiger-Programm für Neonazis aufgenommen wurde, ist für die Opfer des NSU laut Amadeu Antonio Stiftung ein weiterer “Schlag ins Gesicht”. Zschäpe habe sich nie zu ihren Taten bekannt. Nun erhoffe sie sich durch das Aussteigerprogramm aber wohl eine mildere Strafe und frühere Entlassung, erklärt Lorenz Blumenthaler, Pressesprecher der Stiftung, im Gespräch mit der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA).
Semiya Simsek und ihre Familie – die nach Aufdeckung des NSU plötzlich eigenen Angaben zufolge “keine halben Täter mehr, sondern die guten Opfer” waren – werden nach Angaben der Veranstalter am 9. September an einer Gedenkkundgebung für Enver Simsek in Nürnberg teilnehmen. Dazu hat der das “Nürnberger Bündnis Nazistopp” in Zusammenarbeit mit dem “Solidaritätsnetzwerk der Betroffenen rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt” eingeladen – 25 Jahre nach dem Attentat. Die Kundgebung findet auf jenem Platz statt, der nach dem ersten Mordopfer der Rechtsterroristen benannt wurde: auf dem Enver-Simsek-Platz.