Das „Chlorhühnchen“, das vor Monaten durch die Medien flatterte, dürfte noch das geringste Problem sein. Ob ein Huhn nach der Schlachtung mit gechlortem Wasser oder auf andere Weise von Keimen befreit wird – davon wird am Ende die Seligkeit nicht abhängen. Und vermutlich auch nicht die Gesundheit der Verbraucherinnen und Verbraucher. Dennoch: Das „Chlorhühnchen“ steht als Symbol für unterschiedliche Standards, vielleicht sogar für eine unterschiedliche Kultur in den USA einerseits und Europa andererseits.
Dabei sind auch die Unterschiede nicht das eigentliche Problem. Problematisch ist vielmehr, dass sie sie nivelliert zu werden drohen. Und zwar mit einem Abkommen, das einen grenzenlosen freien Handel gewährleistet zwischen den 28 Ländern der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten von Amerika: TTIP (siehe auch Seite 1 und Seite 5 dieser Ausgabe). Und für einen grenzenlosen freien Handel stellt die Ablehnung der Behandlung von Fleisch mit Chlor ein echtes Handelshemmnis dar. Zumindest aus Sicht der amerikanischen Verhandlungspartner des TTIP-Abkommens.
Für die europäische Seite sieht die Sache ganz anders aus. Selbst die grundsätzlichen TTIP-Befürworter (das ist der Großteil der etablierten und der regierenden Parteien innerhalb der EU) möchten europäische Standards – nicht nur der Lebensmittelsicherheit – erhalten. Ob ihnen das allerdings gelingt, steht in den Sternen.
Große öffentliche Debatte in Deutschland
Die Kritik an dem geplanten Abkommen jedenfalls verstummt nicht (siehe Kasten unten rechts). Deutschland gilt innerhalb der Europäischen Union als das Land mit der größten öffentlichen Debatte über TTIP und seine Folgen. 33 Prozent der Deutschen halten den Vertrag für „eine schlechte Sache“. Allerdings gaben in einer Umfrage im Mai auch 46 Prozent an, das Vorhaben nicht beurteilen zu können.
Das wundert nicht angesichts der Komplexität der Materie. Dennoch sind einige Kritiker auf den Plan getreten, die nicht nur mit Polemik (etwa im Sinne des „Chlorhühnchens“), sondern mit Sachargumenten und Aufklärung gegen TTIP zu Felde ziehen.
Mit dabei sind neben Gewerkschaften und Umweltorganisationen auch die evangelischen Kirchen mit ihren Entwicklungs- und Hilfsorganisationen. Sie alle fordern ausdrücklich zur Auseinandersetzung mit dem Thema auf, denn sie befürchten eine Reihe von negativen Folgen für die Mehrzahl der Menschen in der EU und in den Ländern auf der Südhalbkugel.
Eine kritische Haltung zu den Freihandelsabkommen zwischen den USA (TTIP) und Kanada (CETA) sowie der Europäischen Union nimmt die Synode der Evangelischen Kirche von Westfalen (EKvW) ein. Sie teile die Sorge, dass durch die Freihandelsabkommen Verfassungsrechte, Arbeitsplätze und ökologische, soziale, gesundheitliche und juristische Standards gefährdet werden, heißt es in einem Beschluss unter der Überschrift „Kein Freihandel um jeden Preis“ vom November 2014. Die Synodalen befürchten, dass zentrale Mechanismen des Rechtsstaates außer Kraft gesetzt werden und staatliches Handeln beschränkt wird. Besorgnis herrscht zudem im Blick auf die Entwicklungs- und Schwellenländer.
Das ist denn auch einer der Hauptkritikpunkte kirchlicherseits: TTIP schränke die Handlungs- und Entwicklungsspielräume von Entwicklungsländern ein und schwäche deren handelspolitische Potenziale. Afrikanische Produkte etwa gerieten in Konkurrenz zu Produkten aus den USA und der EU stärker und Druck. Wissenschaftler rechneten mit einer Schwächung der Wirtschaft in Afrika durch TTIP um bis zu vier Prozent, heißt es in einem gemeinsamen Papier des Amtes für Mission, Ökumene und kirchliche Weltverantwortung der westfälischen Kirche, der Werkstatt Ökumene/EineWelt im Kirchenkreis Dortmund und der Evangelischen Akademie Villigst (kurz: „MÖWe“-Papier). Die Einführung gemeinsamer Standards (etwa im Umwelt- oder Gesundheitsbereich) dürfe nicht zu Lasten von Entwicklungs- oder Schwellenländern gehen, warnen Diakonie Deutschland und „Brot für die Welt“ in ihrem Positionspapier zu den TTIP-Verhandlungen (kurz: Diakonie-Papier).
Kritik an der Planung von Sonderschiedsgerichten
Klar ist für die evangelischen Kirchen und ihre Institutionen auch, dass die soziale Daseinsvorsorge durch TTIP nicht allein den Mechanismen des Marktes unterworfen werden darf. Im Diakonie-Papier heißt es, das Abkommen müsse so formuliert werden, dass es ermögliche, „soziale Dienste weiterhin öffentlich zu finanzieren und strukturell zu fördern“.
Auf deutliche Ablehnung stoßen bei den Kirchen auch die geplanten Sonderschiedsgerichte, die transnationalen Konzernen Investitionssicherheit garantieren sollen. Konkret heißt das: Wenn ein nationales Parlament etwa ein Gesetz über Umweltauflagen für bestimmte Industriezweige verabschiedet, können betroffene Unternehmen den Staat vor einem nicht-staatlichen Gericht auf Schadensersatz verklagen. Ein solches „paralleles Sonderrechtssysem“, das keiner nationalen Gesetzgebung unterliegt und keiner Kontrolle unterworfen ist, könne dazu führen, dass Politiker davor zurückschrecken, Gesetze, die „im legitimen öffentlichen Interesse lägen, voranzutreiben“, heißt es im „MÖWe“-Papier. Die Politik würde daher in vielen Bereichen auf dem Status quo eingefroren. Auch bestehende Gesetze wie Artikel 14 des Grundgesetzes („Eigentum verpflichtet“) würden an Wirkung verlieren, da bei solchen Schiedsverfahren soziale Verantwortung keine Rolle spiele.
Insgesamt hegen die kirchlichen Kritiker Zweifel an den positiven wirtschaftlichen Effekten, die die TTIP-Befürworter erwarten. Mit Verweis auf eine von der EU-Kommisssion in Auftrag gegebene Studie des „Centre for economic policy research“ soll nach Ablauf von 15 Jahren das Bruttoinlandsprodukt in der EU durch TTIP lediglich um 0,48 Prozent steigen, in den USA um 0,39 Prozent. Pro Jahr kämen die beteiligten Länder auf einen Wachstumseffekt von unter 0,036 Prozent. Das sei ein Wert „unter der statistischen Nachweisgrenze“ („MÖWe“-Papier).
Auch eine spürbare Senkung der Arbeitslosigkeit ist nach Meinung der Kritiker nicht zu erwarten. Sie verweisen dabei auf eine Studie, die das Bundeswirtschaftsministerium in Auftrag gegeben hat: Sie besagt, dass durch TTIP in der Bundesrepublik über einen Zeitraum von 15 Jahren gerade mal etwa 1800 Arbeitsplätze pro Jahr entstehen werden – und zwar für 15 Jahre. Allerdings seien dies Langzeiteffekte, die erst nach zehn bis 20 Jahren wirksam werden könnten, vorausgesetzt dass alle Zölle und Handelshemmnisse abgebaut seien („MÖWe“-Papier).
Ähnliche Bedenken hegt auch die evangelische Wirtschaftsexpertin Britgitte Bertelmann: „Es ist nicht gesichert, dass die EU-Staaten, die es am nötigsten hätten und die am meisten unter Arbeitslosigkeit leiden, diejenigen sein werden, die von mehr freiem Handel profitieren.“
Unsicher sind die kirchlichen Kritiker auch im Blick auf die von den Befürwortern ins Feld geführte Erhöhung des Durchschnitseinkommens der Arbeitnehmer: Deren Einschätzung sei schwierig, erklären sie, verweisen aber auf das Abkommen, das 1994 die nordamerikanische Freihandelszone zwischen Kanada, den USA und Mexiko begründet hat: Dort sei Druck auf die Löhne ausgeübt worden, so dass Löhne und soziale Standards nach unten hin angepasst worden seien und die Konkurrenz zwischen den Beschäftigten angestiegen sei („MÖWe“-Papier).
Zweifel an Senkung der Arbeitslosigkeit
Welche Kritikpunkte in die Verhandlungen, die die EU-Kommission mit Vertretern der USA führt, einfließen, ist nicht bekannt. Das Verfahren findet hinter verschlossenen Türen statt. Das ist denn auch grundsätzlicher Anlass kirchlicher Kritik: die mangelnde Transparenz.
Die EU-Kommission ihrerseits tritt solcher Kritik immer wieder entgegen. Auch werde über Standards etwa im Umweltschutz oder in der Lebensmittelsicherheit nicht verhandelt. An den bisherigen europäischen Regelungen solle sich nichts ändern, heißt es. Die Angst vor dem „Chlorhühnchen“ sei unbegründet.
Das mag sein. Aber es bleiben Sorgen. Und Fragen. Nicht nur bei den Kirchen. Die teilen zwar grundsätzlich die Auffassung, dass Handel zu menschlicher Entwicklung und zu Wohlstand beitragen kann, wissen aber auch, dass Freihandel „das Motto global wirtschaftlich überlegener Akteure“ ist, „die sicher sein können, siegreich aus einem Wettbewerb hervorzugehen“ („MÖWe“-Papier).
Deshalb fordern sie eine faire, gerechte und nachhaltige Gestaltung der wirtschaftlichen Beziehungen. Schutz der Menschenrechte, Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen – all das darf ihrer Meinung nach dem freien Markt und dem Gewinnstreben multinationaler Konzerne nicht zum Opfer fallen.