Sie weiß, dass sie damit den Konflikt nicht lösen wird. Trotzdem liest eine Münchnerin auf dem Marienplatz Namen getöteter Kinder aus Israel und Palästina vor. Wie die Geburt eines Kindes in politisches Engagement führt.
Am Samstag um 13 Uhr wird sie wieder auf dem Münchner Marienplatz stehen, zum dritten Mal seit August. Und Namen getöteter Kinder aus Israel und dem Gazastreifen verlesen. Bisher sei sie politisch nicht sonderlich aktiv gewesen, erzählt Anne Faßbender (38). Aber dann kam im vergangenen Jahr ihr Sohn zur Welt. Seither ertrage sie die Bilder hungernder und leidender Kinder einfach nicht mehr.
“Ich konnte nicht mehr schlafen”, sagt die junge Mutter, die ihr Geld als Selbstständige mit dem Vermitteln von Versicherungen verdient. “Ich saß daheim auf der Couch und mir kamen die Tränen.” Sie habe das furchtbare Geschehen im Nahen Osten nicht länger ausblenden und entsprechende Nachrichten auf dem Smartphone wegwischen können.
Ihre monatliche Kundgebung sei eigentlich “eine wahnsinnig egoistische Veranstaltung”, meint die 38-Jährige. Sie müsse das Gefühl haben, irgendetwas zu tun und zu verändern. Denn hinfahren, sich an die Grenze stellen und Essen rüberwerfen, das gehe ja nicht. Früher habe sie in solchen Momenten ihr Gewissen mit Spenden an Hilfsorganisationen beruhigt. Das aber funktioniere nicht mehr.
Faßbenders Aktion steht unter dem Motto “Don’t look away” – schau nicht weg. Der Appell richtet sich an die deutsche Öffentlichkeit und auch an die Bundesregierung. Denn sie findet, dass der deutsche Blick auf den Nahostkonflikt bisher sehr einseitig ausfällt. Das spiegle sich auch in den proisraelischen oder propalästinensischen Demonstrationen, insbesondere seit dem Terror-Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023.
Die junge Mutter wird also Namen der auf beiden Seiten gestorbenen Kinder vor dem Münchner Rathaus verlesen, immer im Wechsel. Bei einigen hat sie in Erfahrung gebracht, wie sie zu Tode gekommen sind. Dann kommt das in ein, zwei Sätzen zur Sprache. Dass eine Mama berichtet habe, wie sehr ihre Tochter ihre rosafarbenen Rollschuhe gemocht habe, dass sie das Licht der Familie gewesen sei.
Für jeden verlesenen Namen wandert eine Erbse von einem Glas in ein anderes. “Wir wollen visualisieren, wie viele das sind.” Die “Washington Post” hat im August 18.000 palästinensische Kindernamen veröffentlicht. Es wird noch etliche Kundgebungen brauchen, bis die alle ausgesprochen sind. Auch nach der dritten Kundgebung werden die Erbsen in dem einen Behälter kaum den Boden bedecken, während der andere immer noch randvoll ist. Aber Faßbender und ihre Mitstreiter haben einen langen Atem. Demnächst soll das Kundgebungsformat auch in Köln, Berlin und Frankfurt an den Start gehen.
Ihre Unterstützer rekrutieren sich vor allem aus Aktiven der proeuropäischen Partei Volt: Studenten, Azubis, viele Ingenieure. Aber die Partei selbst halte sich heraus, berichtet die Münchnerin. Andere Parteien hätten auf ihre Initiative sehr zurückhaltend reagiert. Auch mehrere Organisationen seien angeschrieben worden. “Aber es wollte keiner mit uns kooperieren, also haben wir es dann einfach selber gemacht.”
Zwischen einer halben und zwei Stunden pro Tag wendet die Versicherungsvermittlerin für ihr politisches Engagement auf. “Andere gehen jeden Tag ins Fitnessstudio.” Und ihre Familie, wie steht die dazu? “Meine Mutter findet es eigentlich als Einzige wirklich extrem gut”, erzählt Faßbender. “Die anderen nehmen es zur Kenntnis, sagen wir es mal so.”
Bei den ersten beiden Aktionen auf dem Marienplatz hat sie gemischte Reaktionen erfahren. Das größte, positive Interesse hätten ausländische Touristen gezeigt. “Die haben zugeschaut, zugehört, obwohl sie uns teilweise gar nicht verstanden haben.” Bis zu 50 Passanten seien stehen geblieben, ein kleiner Teil sei bis zum Schluss geblieben, einige seien wiederum “offensichtlich angefasst und eher aggressiv weggegangen”.
Zum Nahostkonflikt hat die Münchnerin keinen persönlichen Bezug, weder über Freunde noch über Verwandte. Anfangs sei sie auch “total blauäugig” bei dem Thema gewesen. “Deshalb hat es mich irritiert, dass jegliche Israelkritik direkt als Antisemitismus abgestempelt wird.” In München habe sie das jedenfalls so erlebt, vielleicht sei das in anderen Städten nicht so.
Die Achtung des Völkerrechts und humanitäre Hilfe stehen im Zentrum ihrer politischen Forderungen. Und die Anerkennung Palästinas. Die Bundesregierung müsse jetzt mehr tun, um den brüchigen Waffenstillstand zu sichern, als ein paar unbewaffnete Bundeswehrsoldaten zur Beobachtung zu entsenden.
Den tausende Kilometer entfernten Konflikt von Deutschland aus lösen zu wollen, diesen Anspruch hat Anne Faßbender nicht. Aber dass Kinder sterben, ausgehungert, zerbombt und von Panzern überfahren, das könne eines Tages auch in Deutschland passieren. “Und zwar schneller als man denkt”, sagt die 38-Jährige. “Wenn wir jetzt nicht auf die Straße gehen.”