Kopfkino statt Kunstausflug: Das Projekt “Bei Anruf Kultur” bringt Ausstellungen per Telefon ins heimische Wohnzimmer. Das hat das Leben der blinden Dagmar Krause komplett verändert.
Dagmar Krause macht es sich in einem Sessel in ihrem Wohnzimmer bequem, ihr Mann bringt ihr einen Kaffee. Die 70-Jährige setzt ein Headset auf und wählt auf ihrem Telefon eine Hamburger Nummer. “Herzlich willkommen, hier ist ‘Bei Anruf Kultur'”, sagt eine Stimme.
“Bei Anruf Kultur” ist ein bundesweites Projekt, das seit 2021 Kultur für Menschen zugänglich macht, die zum Beispiel Museen oder historische Bauten nicht persönlich besuchen können – etwa aufgrund von Sehbehinderungen oder eingeschränkter Mobilität. Ein Kulturvermittler beschreibt den bis zu 25 Teilnehmenden eine Stunde lang beispielsweise eine Ausstellung möglichst anschaulich.
Krause nimmt regelmäßig an den Telefonführungen teil. Die Braunschweigerin ist seit ihrem zwölften Lebensjahr blind, nachdem sie an einer Netzhautablösung litt. “Ich fand das Projekt von Anfang an fantastisch”, sagt sie. Vorher habe sie nur selten Museen besucht. “Es gibt ja nicht so viele Führungen für Blinde.”
Inzwischen sei die Teilnahme an den Führungen zu einem Hobby geworden. “Wenn ich Zeit habe, nehme ich mehrmals pro Woche teil.” Auf diese Weise habe sie unter anderem schon die Hamburger Elbphilharmonie, das Neanderthal Museum bei Mettmann, das Museum Barberini in Potsdam und das Landesmuseum in Stuttgart “besichtigt”. “Die Führungen sind für mich wie eine Oase”, sagt sie. “In dieser einen Stunde kann ich richtig abtauchen. Das ist mein Lebenselixier.”
Initiiert wurde “Bei Anruf Kultur” vom Blinden- und Sehbehindertenverein Hamburg und dem Design- und Beratungsbüro grauwert, das sich auf inklusive Projekte spezialisiert hat. Als Reaktion auf die Einschränkungen während des Corona-Lockdowns gestartet, hat sich das Projekt zu einem dauerhaften Angebot entwickelt. Inzwischen beteiligen sich knapp 100 Museen aus ganz Deutschland. Fast täglich steht eine Führung auf dem Programm. Dank einer Förderung durch die Aktion Mensch ist das Angebot derzeit kostenlos.
Dagmar Krause ist dieses Mal mit Ohren und Gedanken im Staatlichen Museum Schwerin. Es geht um Otto Marseus von Schriek, einen Künstler, der im 17. Jahrhundert in den Niederlanden lebte. In seinen Stillleben eröffnet er ungewöhnliche Blicke auf Kleintiere, die auf dem Waldboden leben. “Lassen Sie uns heute eintauchen in das damalige Universum der Entdeckungen, festgehalten auf Gemälden”, sagt Führerin Birgit Baumgart.
Sie beginnt mit zwei Fragen an die Zuhörer: “Wer von Ihnen kann sich gut an seinen letzten Waldspaziergang erinnern? Was von diesem Erlebnis kommt Ihnen in den Sinn?” – “Ich kann mich sehr gut an das Vogelgezwitscher erinnern”, sagt eine Frau. “Und an den Staub, weil es so lange nicht geregnet hat.”
Krause erzählt von einem Spaziergang mit einer Begleitung, bei dem am Wegesrand ausgehöhlte Baumstämme standen. “Das waren Insektenhotels – man konnte oben reinfassen und Krümel wie Sägespäne fühlen.”
Danach beschreibt Baumgart das erste von zwei Werken, die im Mittelpunkt der heutigen Führung stehen. “Das Bild heißt “Waldstillleben mit Reptilien und Insekten” und ist ein Hochformat, 45 Zentimeter breit und fast 60 Zentimeter hoch”, sagt sie. “Wir fangen mal ganz links an. Dort wächst ein Fingerhut. Die Pflanze ragt fast über das ganze Format und seine lila Blüten sind gut zu sehen im oberen Teil des Bildes. Und um diese lila Blüten herum flattern drei Schmetterlinge und eine Libelle. Auf seinen grünen Blättern kriecht eine Schnecke.” Baumgart beschreibt das Bild vom Rand zur Mitte – wo eine Schlange zu sehen ist. “Ihr Maul ist geöffnet, und sie schnappt nach einem Schmetterling.”
Es sei wichtig am Rand zu beginnen, damit die Teilnehmer folgen könnten, erklärt Baumgart später im Interview. Außerdem müsse man reduzieren. “Wenn ich alle Schmetterlinge auf dem Bild beschreiben würde, würden die Zuhörenden ganz wirr im Kopf”, so die Museumspädagogin, die seit 20 Jahren Museumsführungen für Blinde und Sehbehinderte anbietet und seit zwei Jahren Telefonführungen.
Die Herausforderung am Telefon sei, dass sie die Reaktionen der Teilnehmer nicht direkt wahrnehmen könne. “Vor Ort im Museum sehe ich die Reaktionen im Gesicht.” Ein Vorteil sei hingegen, dass man alles imaginär erzählen könne. “Es ist schön, dass man seiner Fantasie freien Lauf lassen kann.”
Die Rückmeldungen der Teilnehmer sind laut dem Hamburger Blinden- und Sehbehindertenverein durchweg positiv. “Viele sagen, es macht sie glücklich, endlich wieder Input zu bekommen”, sagt Sprecherin Annika Harder. Pflegeheimbewohner berichteten von einer willkommenen Abwechslung im Alltag. Für die Zukunft sei geplant, das Projekt komplett barrierefrei zu machen, damit auch Menschen mit Höreinschränkungen teilnehmen könnten. Dazu solle es eine Verschriftlichung der Führungen geben. Da die Förderung im Oktober 2026 auslaufe, sei man zudem auf der Suche nach neuen Sponsoren.
Auch Dagmar Krause ist nach der heutigen Führung begeistert: “Sie haben das toll beschrieben – ich konnte mir wirklich etwas vorstellen”, sagt sie am Ende der Telefonkonferenz zu Führerin Baumgart. “Es war ein Erlebnis.”