Wie kann man entsetzliches Leid und abscheuliche Gräuel greifbar machen, ohne die Würde der Opfer mit Füßen zu treten oder gar zu Handlangern der Täter zu werden? Eine Analyse der deutschen TV-Bilder zum Nahost-Krieg.
Am Freitag, 13. Oktober, lief in der “Tagesschau” ein kurzer, 96 Sekunden dauernder Bericht vom Besuch der deutschen Außenministerin Annalena Baerbock in Israel. Der Ort, an dem sie sich an diesem Tag befand, wurde nicht benannt. Der zuvor ausgestrahlten “heute”-Sendung des ZDF konnte man entnehmen, dass es sich um Netivot handelte, also um einen Ort im Süden Israels nahe des palästinensischen Gaza-Streifens.
Von dort hatte die islamistische Hamas sechs Tage zuvor ihren terroristischen Angriff auf Israel gestartet, der mehr als 1.400 Menschen das Leben kostete. Zudem wurden über 200 Menschen, darunter viele Kinder, Frauen und ältere Menschen als Geiseln in den Gaza-Streifen verschleppt.
Die Bilder sind unscharf gestellt. Baerbocks Besuch in Netivot galt der Solidarität mit dem angegriffenen Land und seinen Menschen. Was sie an diesem Tag dort sagte, wurde in fast allen Nachrichtensendungen ausschnittsweise gezeigt. Die “Tagesschau” zeigte etwas mehr. Auch einen engen Raum, in dem viele Menschen, unter ihnen die Außenministerin, Platz gefunden hatten. An der Längswand war ein großes Videodisplay angebracht. Der Blick darauf war durch einen Kameramann verstellt, der ebenfalls filmte, was auf dem Display zu sehen war.
Vor dem Display stand ein Schreibtisch mit mehreren Computermonitoren und einer kleinen Israel-Flagge. An ihm saßen zwei Männer mit Sicherheitswesten. Auf dem Display wurden rasch hintereinander Fotos und kurze Videoszenen eingespielt, die nach dem Angriff vermutlich von israelischen Sicherheitsorganen aufgenommen wurden. Diese Fotos waren dergestalt bearbeitet, dass immer wieder mal Teile unscharf gestellt waren.
Hintereinander war nun zu sehen: ein weißes Auto, dessen rechte Tür offenstand, so dass man erkennen konnte, dass der Fahrer tödlich getroffen im Sicherheitsgurt lag. Vor einem anderen Wagen mit geöffneter Heckklappe lag ein Mensch auf dem mit Blut bedeckten Boden. Eine junge Frau, deren Oberkleidung zerrissen war, lag tödlich getroffen oder schwer verletzt auf dem Beifahrersitz eines weiteren Wagens. Dann sah man diejenigen, die diese Bilder anschauten, unter ihnen Baerbock.
Neben ihr saß ein Mann in einem olivfarbenen Hemd, der weinte. Sein Nachbar strich ihm über den Kopf, dann legte er den Arm auf dessen Schultern. In einer zweiten Einstellung sah man, wie eine Frau den Blick vom Display abwendete, die Augen schloss und sich mit der rechten Hand über das Gesicht fuhr, dann gab sie sich einen Ruck und schaute wieder hin – sichtlich bewegt.
Es folgten weitere Bilder vom Ort der Verbrechen: Menschen, die kaum zu erkennen waren, lehnten an einer weißen Mauer. Vor einem Haus lag fast nackt eine Leiche. In einem Hauseingang war in einer Blutlache der Körper des ermordeten Menschen kaum zu erkennen. Nach einem Zwischenschnitt auf das Gesicht von Baerbock erkannte man auf dem Display einen zusammengeschossenen Körper, der auf einem Motorrad liegt. Dann folgte die Erklärung von Baerbock, die an diesem Abend alle Nachrichtensendungen ausführlich zitierten und in der sie sich indirekt zu einem israelischen Angriff auf den Nordteil von Gaza äußerte.
Seit der ersten Sonderausgabe der “Tagesschau” am Samstag, 7. Oktober, um 15.27 Uhr kursierten in den Nachrichten- und Sondersendungen deutscher Fernsehprogramme Bilder der Gewalt. In den meisten Fällen handelte es sich zunächst vor allen um Auszüge aus Propagandavideos der Hamas, also um Bilder der Täter. Jede Terror-Einheit, das sah man diesen Ausschnitten auch an, war anscheinend von Personen begleitet worden, die mit ihren Mobiltelefonen das Geschehen aufnahmen und vermutlich sofort ins Netz stellten. Der Angriff war von Anfang als Medienereignis geplant.
Zuerst überwogen Kriegsbilder, die man ähnlich wie die Aufnahmen startender oder abgeschossener Raketen zwar mit Schrecken, aber auch mit einer gewissen Routine betrachtete. Erst am Abend und dann vor allem am nächsten Tag nahmen die Aufnahmen zu, die von der brutalen Gewalt gegen die Zivilbevölkerung zeugten. Angesichts all dessen konnte man nun langsam die Dimension des Terrors erahnen. Erst recht, als bald Bilder vom Angriff der Hamas auf ein Festival mit elektronischer Musik gezeigt wurden. Hier wurden mehr als 260 junge Menschen ermordet, nachdem sie über das freie Feld gejagt und in Unterständen aufgespürt worden waren.
Am Sonntagabend verwandte der israelische Historiker Moshe Zimmermann in einer “Brennpunkt”-Sendung der ARD für den Terror der Hamas den Begriff “Pogrom”, mit dem seit Jahrhunderten die antisemitischen Attacken auf Jüdinnen und Juden bezeichnet werden. Dass man das Gewaltgeschehen mit einem solchen Begriff zu begreifen versuchte, lag – so absurd das klingen mag – auch an den Videos der Täter. Erst mit ihnen stellte sich ein Eindruck von der Dimension dieses mannigfachen Gewaltaktes ein.
Dabei gingen die deutschen Sender bisher weitgehend verantwortungsbewusst mit den Hamas-Videos um. Sie bearbeiteten sie stark, notierten ihre Herkunft und ordneten sie ein. Fatal bleibt eine solche Nutzung dennoch, da ihre Verwendung ja stets und immer nur und jenseits aller Kommentierung und Einordnung auch den Zweck der aufnehmenden Terroristen erfüllt.
Der Journalist Deniz Yücel, der in einem Artikel der “Welt” vorbehaltlos dafür plädierte, diese Videos auf Grund ihrer politischen Relevanz zu zeigen, wählte als Begründung einen historischen Vergleich: “Hätten Sowjets, Amerikaner und Briten darauf verzichten sollen, Aufnahmen aus Auschwitz, Buchenwald und Bergen-Belsen zu veröffentlichen? Wie würden wir heute über die Shoah denken? Und wer hätte davon profitiert, wenn sich diese Bilder nicht ins kollektive Gedächtnis der Menschheit eingeschrieben hätten?”
Dieser Vergleich charakterisiert die Bilder der Hamas allerdings nicht richtig. Denn das, was die Alliierten nach der Befreiung der Vernichtungs- und Konzentrationslager aufnahmen, waren Bilder der Tatorte und nicht Bilder der Verbrecher. Es sei daran erinnert, dass beispielsweise Claude Lanzmann für seinen epochalen Film “Shoah” auf die Bilder verzichtete, die beispielsweise SS-Männer in den Lagern aufgenommen hatten und die noch zuvor in Kompilationsfilmen wie “Nacht und Nebel” von Alain Resnais verwandt worden waren.
Vielleicht war deshalb der kurze Nachrichtenfilm, in dem Annalena Baerbock und andere winzige Ausschnitte dieser Videos gemeinsam betrachteten und die Zuschauerinnen und Zuschauer dieses Films ihnen dabei zuschauten, so bedeutsam. Er dokumentierte die Schreckenskraft der Bilder, die nach den Taten an den Orten der Verbrechen aufgenommen worden waren. Eine Schreckenskraft, der sich sichtbar auch die hartgesottenen Profis der Krisendiplomatie nicht entziehen konnten.