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Ein Moment der Sicherheit

Am Hauptbahnhof betreibt die Berliner Stadtmission die Willkommenshalle für ukrainische Flüchtlinge

Am Montag machte sich die Präses der EKD-Synode Anna-Nicole Heinrich gemeinsam mit dem Stadtmissionsdirektor Christian Ceconi ein Bild von der Atmosphäre und arbeitete mit den Freiwilligen an der Essensausgabe. Eindrücke von einem unvergesslichen Abend 

Von Sibylle Sterzik

Rosablau färbt sich der Himmel über der Stadt. In Kiew befürchten die Menschen jetzt eine weitere Nacht unter Beschuss, denke ich, als ich am Berliner Westkreuz die Stadtbahn in Richtung Hauptbahnhof nehme. Wie geht es den Menschen, die heute Abend aus der Ukraine ankommen, denen es gelang, aus der Hölle des Krieges zu flüchten? Spontan habe ich mich als Helferin für die Abendschicht im Willkommenszelt des Berliner Senats am Hauptbahnhof eingetragen, das die Berliner Stadtmission betreibt. 19 bis 23.59 Uhr. Ein Mann mittleren Alters fällt mir auf im selben ­S-Bahn-Waggon. Vielleicht fährt er auch zum Hauptbahnhof. Später treffe ich ihn dort wieder.

Erstmal Papierkram

Am Eingang des riesigen Zeltes aus weißer Plane am Washingtonplatz hängt ein breites rotes Transparent. „Welcome Hall Land Berlin“ steht darauf und darunter dasselbe auf Russisch und Ukrainisch. Andersherum wäre es wohl passender. Am Container 8 am Südende des ­Zeltes drückt mir ein freundlicher Freiwilliger sechs Blätter auf einem Klemmbrett in die Hand. Erstmal ­Papierkram. Impfnachweis, hier herrscht 3G. Auch dafür unterschreibe ich und versichere, nicht vorbestraft zu sein etwa wegen sexuellen Missbrauchs. Aus dem Container-Fenster gibt mir der Freiwillige eine grüne Weste mit der Aufschrift „Volunteers Berliner Stadtmission“ und ein gelbes Namenschild mit dem Vornamen am blauen Band. 

Anne und Christian mit den blauen Westen für die Ehrenamtskoordinatoren überschütten uns Neulinge ganz cool und relaxed mit Informationen zur Halle. Die Aufgaben sind schnell verteilt. Essen oder Getränke ausgeben, Türen öffnen oder schließen, Menschen zum Zug ans Gleis oder zum Bus vor der Halle begleiten und beim Taschentragen helfen. Geschirr wegräumen, Tische abwischen, Kinder beschäftigen, übersetzen oder Übersetzer heranholen.  Immer wieder schauen die beiden vorbei und fragen, ob alles gut ist.

Anders als erwartet geht es hier ruhig und geordnet zu. Das war in der vorigen Woche ganz anders. Und immer wenn ein Zug aus Polen ­ankommt, strömen die Menschen herein. Am Montagabend ist die Halle ist nicht überfüllt, aber überall stehen Taschen und Koffer. Ihre ­Eigentümer kommen hier für einen Moment zur Ruhe.

Unsicher, wie es weitergeht

Jeden Abend übersetzt Arturo hier. Er ist Spanier, spricht perfekt Russisch. Einige Jahre hat er in Moskau gearbeitet. Es ist der Mann aus der S-Bahn. Ich frage ihn, was er von den Geflüchteten hört. „Mein Eindruck ist, dass sie sehr dankbar sind. Es sind starke Menschen. Sie weinen nicht“, sagt er. „Sie brauchen Information, sind unsicher, wie es für sie weitergeht.“ Die meisten wüssten nicht, dass es hier dieses Zelt gibt, sie hier kostenlos essen und trinken können. „Viele denken, sie seien nun hier angekommen. Dann realisieren sie, dass es nur ein Zwischenstopp ist, und sie wieder weitermüssen in andere Bundesländer, denn Berlin gilt als überfüllt.“  

An Biertischgarnituren sitzen lose verteilt Frauen mit Kinder­wagen oder Babys auf dem Arm, in Decken gehüllt. Eine alte Frau hat ihren grauen eleganten Mantel nicht ausgezogen. Sie zittert. Ihr in sich gekehrter Blick scheint sich in unguten Erinnerungen zu verlieren. Weit weg und doch nah. Einem Jungen laufen die Tränen übers Gesicht. Rücklings liegt er auf einer großen mit Sachen vollgestopften Plastik­tasche. Eine Dolmetscherin, zu erkennen an der Weste in Orange, redet beruhigend auf ihn ein. Doch auch der Schokoriegel tröstet ihn nicht. Erst als ein paar Helfer ein ­bereitstehendes Reisekinderbett herbeischleppen, in dem er schlafen kann, kehrt Ruhe ein.  

Freiwillige stehen an den Türen, an der Essensausgabe, am Eingangstresen, reichen Infozettel über den Tisch. Geleiten Menschen zum ­Arztstützpunkt. Daneben hängen Smartphones an den Steckdosen. Ab und zu erklingt eine Durchsage per Mikrophon auf Russisch, anscheinend ein Hinweis auf die Busse, die draußen an der Straße vor der Halle zur Abfahrt bereitstehen. Die meisten fahren weiter zu den Ad-hoc-Unterkünften des Landes Berlin nach Tegel, zum BER in Schönefeld oder zur Messe. Eine Familie mit drei kleinen Kindern muss später wieder hierher zurückkehren. Tegel war überfüllt. Also weiter warten an den Biertischgarnituren. 

Helfer in Schlips und Anzug

Gordon trägt einen langen Mantel, Schlips und Anzug, darüber die Weste und das Band mit dem Namensschild. Direkt nach der Arbeit kam er hierher. „Ich habe mich schon 2015 engagiert“, sagt er und möchte auch jetzt nicht einfach ­untätig zu Hause sitzen. Eben hat er einer Frau ihre schwere Tasche zum Gleis getragen. Sven schnappt sich eine blaue Mülltüte und lässt darin verschwinden, was an Pappbechern und Tetrapacks nicht mehr gebraucht wird. Beide sind heute zum ersten Mal hier. 

Der Helfer an der Essensausgabe steht schon den fünften Abend an den zu einem Ecktresen umgebauten Holzpaletten. Er sieht sofort, wo  etwas fehlt. Füllt frisches Wasser mit dem Schlauch in die großen Wärmebehälter zum Aufkochen. Später wirft er 20 Teebeutel hinein oder löst ein Glas löslichen Kaffee darin auf. „Tschai“ oder „Kava“, Tee oder Kaffee, wollen die meisten mit drei Löffeln Zucker. Linsensuppe mit oder ohne Fleisch gibt es. „Moschno“ höre ich oft, „Ich möchte“ und „Spacibo“, „danke“. Kinder fragen nach Kakao. Den gibt es leider nicht. Dafür Früchtetee. ­Einige fragen nach Schokolade. Die trockenen, in Folie verpackten Kekse kommen nicht so gut an. 

Anna, Christian und Luba

Gegen 20.30 Uhr stellt sich Anna mit an die Essensausgabe, an der Plexiglas angebracht ist. Sie füllt Kaffee in die braunen Becher, schöpft mit der Kelle Suppe auf den Pappteller und scherzt mit den Leuten vor dem Tresen. Auch Freiwillige sind darunter. Neben ihr steht Christian, ein hochaufgewachsener Mann, die beiden reden miteinander, reichen halbvolle Becher an Frauen in warmen Mänteln und ältere Männer über den Tisch und gehen sichtlich mit Freude an die Arbeit. Mitgebracht hat Anna ihre Freundin Luba, die vor 13 Jahren aus Russland hierher übersiedelte, und deren Mann. Luba versteht, was die Frauen, Männer oder Kinder an der ­Essensausgabe sich wünschen. Auf einmal wird gescherzt und ­gelacht. Denn da ist ein Mensch, der sie versteht. 

Anna ist Präses der EKD-Synode und Christian leitet als Direktor die Berliner Stadtmission. Für zwei bis drei Stunden arbeiten Anna-Nicole Heinrich und Christian Ceconi heute hier mit. Kaum jemand weiß, wer da in den grünen Westen steckt. Selbst ein Freiwilliger vom Mitarbeiterteam erkennt den Stadtmissions­direktor unter der Maske nicht. „Ich kann Sie leider nicht in den Raum drüben zu einer Besprechung reinlassen, der ist nur für leitendes ­Personal“, sagt er. Christian Ceconi lächelt freundlich, klärt das Missverständnis auf. Beide lachen. Ceconi lobt den Freiwilligen, weil er so ­vorschriftsmäßig gehandelt hat. 

Ein sichtbarer Ort und Freiwillige mit gutem Gespür

Anna-Nicole Heinrich ist sichtlich beeindruckt von der professionellen Organisation. Auf die Frage, was sie von diesem Abend hier mitnehme, sagt sie: „Ich nehme die ­gute, ruhige geordnete Atmosphäre mit. Das hier ist ein sicherer Ort für die ankommenden Menschen“, sagt sie. „Die Freiwilligen hier haben ein gutes Gespür dafür, was die Menschen brauchen.“ Die Situation werfe aber auch Fragen auf. „Wie kommen wir als Kirche ins Spiel, wenn die Ukrainerinnen und Ukrainer nicht nur hier an diesem Berliner Drehkreuz, sondern auch an anderen Orten in Deutschland angekommen sind. Was können wir für sie tun?“ 

In einer Pressemitteilung erklärt sie am nächsten Tag: „Im Zelt wird für viele ein Moment der Sicherheit hergestellt. Doch der endet oft abrupt. Geflüchtete brauchen nach ihrer Ankunft Klarheit, die es noch nicht ausreichend gibt.“ Und sie fordert von den staatlichen Stellen in Deutschland und in der Europäischen Union, „alles dafür zu tun, Ordnung in die Verteilung zu bringen und dabei die Interessen der Schutzsuchenden zu berücksichtigen, damit sie eine sichere Bleibe bekommen.“ Kommunikation und Koordination schaffe Klarheit und Sicherheit, und das sei es, was die Menschen aus der Ukraine bei uns dringend benötigen.

Ein Mann von der Obdachlosenhilfe Karuna erzählt, dass sie mit Kirchengemeinden zusammenarbeiten. Für eine Nacht nehmen sie 50 bis 60 Geflüchtete auf. Es gibt etwas zu essen, morgens Frühstück und ein Lunchpaket. Dann geht es zurück zum Bahnhof. Auch Quartiere suchen sie.

An der Spielstation stehen Kisten mit Spielzeug. Ein kleiner Junge baut mit Duplosteinen. Eine Freiwillige reicht ihm die Steine zu. An einem schmalen Tisch malen Kinder bunte Bilder aus der Heimat. Blau-gelbe Gesichter und Herzen, aber auch Frauen in Uniform mit Waffen am Gürtel und in der Hand sind dabei. Das Durcheinander von Pappkisten wirkt wenig einladend, aber wann hatten die Kleinen in den letzten Tagen Gelegenheit zum Spielen?

 #StandWithUkraine lese ich an einer übergroßen Tafel aus blauen und gelben Quadraten hoch über mir in der Bahnhofshalle. Über einem Aufsteller mit Informationen in ­kyrillischen Buchstaben an den Rolltreppen hängt ein zartrosa Kinderpullover. Perlen glitzern darauf aus einer besseren Zeit. Wo mag das Mädchen sein, das nicht nur dieses Kleidungsstück verloren hat? Ein anderes Hinweisschild warnt die Ankommenden davor, ihren Pass aus der Hand zu geben. Eine Stunde nach Mitternacht bin ich zu Hause. Die Bilder bleiben. Es bleibt nicht meine letzte Schicht.

Wer als Helfender in der Willkommenshalle am Hauptbahnhof mitarbeiten möchte, trägt sich auf der Webseite www.volunteer-planner.org für eine Schicht am Tag und zur Zeit seiner Wahl ein. Besonders Freiwillige, die ­russisch oder ukrainisch sprechen, ­werden benötigt.