Christian Dopheide leitet die Stiftung Hephata. Schon seit über 150 Jahren engagiert sie sich für Menschen mit Lernschwierigkeiten. Vor gut zwanzig Jahren hat die Stiftung begonnen, ihre großen Anstaltsgebäude aufzulösen und kleine Wohngemeinschaften an 36 Orten in Nordrhein-Westfalen zu schaffen. Mit dem Inklusionsexperten sprach Sabine Damaschke.
• Wenn wir über Inklusion reden, dann scheint sie in der Kindertagesstätte gut zu gelingen, aber je älter Kinder mit Behinderungen werden, desto weniger sind sie in den Regelschulen vertreten. Fehlt in Deutschland der politische und gesellschaftliche Wille, Inklusion konsequent umzusetzen oder brauchen wir einfach nur mehr Zeit und Geduld?
Es ist tatsächlich so, dass der Inklusionsanteil an deutschen Kitas im vergangenen Schuljahr bundesweit bei 67 Prozent lag, während er in der Sekundarstufe auf knapp 30 Prozent fällt. Aber Schimpfen und Klagen nützt nichts. Inklusion ist ein Millenniumsprojekt, für das wir Zeit und Geduld brauchen. Schließlich blicken wir in Deutschland auf eine 150-jährige Geschichte der Exklusion, bis hin zur Ermordung von Menschen mit Behinderungen im Nationalsozialismus. Allen lebenden Generationen fehlt die Erfahrung im Umgang mit behinderten Menschen. Und wir müssen selbstkritisch zugeben, dass Diakonie und Kirche daran beteiligt sind, weil sie besondere Orte außerhalb der Gesellschaft für diese Menschen geschaffen haben, an denen sie sich um sie kümmerten.
• Deutschland hat 2009 die UN-Behindertenrechtskonvention unterzeichnet. Seitdem reden wir nicht mehr von Integration, sondern von Inklusion. Was ist der entscheidende Unterschied?
Ganz einfach gesagt heißt Inklusion, dass Menschen mit Behinderungen dort leben, wo andere auch leben und dass sie so leben wie andere auch. Sie wollen keine besonderen Wohnheime, Schulen, Arbeitsplätze oder Freizeitangebote, in denen sie unter sich bleiben. Das haben Umfragen unter unseren Bewohnern eindeutig ergeben. Sie möchten nicht über ihre Behinderung definiert werden, sondern wollen – wie alle anderen auch – in ihrer Individualität wahrgenommen werden, als Menschen mit besonderen Vorlieben, Stärken, aber auch Schwächen.
• Wenn wir in Deutschland über Inklusion reden, dann steht dabei vor allem das Bildungssystem im Vordergrund. Die UN-Kommission, die 2015 die Umsetzung der Behindertenrechtskonvention in Deutschland überprüft hat, spricht dagegen von einem Nachholbedarf auf ganzer Linie. Was gehört vor allem dazu?
Es sind drei Sektoren, in denen es besonders hakt. Dazu gehört an erster Stelle unser Bildungssystem, das mit seinem straff gegliederten Schulsystem, Lernstandserhebungen und Zentralabitur stark auf einheitliche Leistungen setzt. Für Inklusion aber brauchen wir mehr differenziertes Lernen und eine Vielfalt von Lernorten. Ein weiteres Problem ist der Arbeitsmarkt. Auch hier ist – genau wie im Bildungsbereich – mehr Durchlässigkeit nötig, um individuelle Arbeits- und Berufskarrieren zu ermöglichen. Wenn Menschen mit Behinderungen statt einer Lehre auch Qualifikationen in Modulen erwerben könnten, um in Betrieben arbeiten zu können, wären ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt besser. Der dritte Knackpunkt ist das Wohnen.
• Auf diesem Gebiet geht die Stiftung Hephata mit ihrem Konzept der Dezentralisierung doch schon seit 20 Jahren mit gutem Beispiel voran.
Wir wollen, dass Menschen mit Behinderung mitten in den Städten leben können wie andere Bürger auch. Daher bemühen wir uns, unsere Wohneinheiten so klein wie möglich zu gestalten. Aber das erfordert einen hohen logistischen Aufwand. Es ist anstrengend, die Hilfsangebote entsprechend vorzuhalten. Wir müssen bei der Organisation der Haushalte assistieren, Fahrten zu den Arbeitsstellen und Werkstätten von verschiedenen Orten aus ermöglichen und auch die Freizeitgestaltung anders planen. Unser Konzept der dezentralen Unterbringung gibt es daher in dieser Konsequenz noch nicht so oft.
• „Von der Fürsorge zur Assistenz“ – so lautet ein Schlagwort der Inklusion. Ist das heute schon in der Begleitung von Menschen mit Behinderung angekommen?
Auf jeden Fall. Es bedeutet, dass Menschen mit Behinderung das Recht haben, ihr Leben so weit wie möglich selbst zu bestimmen. Unsere Aufgabe ist es, sie dabei zu unterstützen statt zu bestimmen, was gut für sie ist. Jüngere Menschen mit Behinderung fordern diese Assistenz übrigens auch ein. Sie bewegen sich selbstbewusster in unserer Gesellschaft, was auch damit zu tun hat, dass viele der 20- bis 30-Jährigen bereits integrative Kitas besucht haben.