Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.
So leicht ums Herz war es Auguste schon lange nicht mehr gewesen. Jetzt im Hochsommer musste sie gemeinsam mit ihrem Mann den ganzen Tag auf dem Feld arbeiten. Nur so würden sie genug zu essen haben für die nächsten Monate. Oft blieben ihre beiden Kinder dann allein zu Hause. Wohl war Auguste dabei nie gewesen. Erst neulich hatte sich ihr Jüngster wieder die Hand verbrannt.
Seit Kurzem war alles anders. Nun brachte sie ihre Kinder jeden Morgen in die Kinderbewahranstalt. Manchmal dachte Auguste, dass ihre beiden dort besser versorgt wurden als sie es zu Hause konnte. Die Kinder bekamen mehrere Mahlzeiten am Tag, wurden gewaschen und sie hatten Kleidung bekommen. Es wurde gespielt und gesungen. Und nach der Arbeit konnte Auguste ihre Kinder wieder mit nach Hause nehmen. Sie war erleichtert und dankbar.
Soziales Engagement aus dem Glauben
So ungefähr könnte es sich im Jahr 1802 zugetragen haben. Fürstin Pauline zur Lippe hatte in diesem Sommer die damals so genannte Kinderbewahranstalt eröffnet, einer der ersten ihrer Art in ganz Deutschland. Kinder, deren Eltern auf den Feldern und in den Gärten arbeiten mussten, sollten einen Ort haben, an dem sie in dieser Zeit behütet waren.
Das soziale Engagement der Fürstin, deren 200. Todestag wir am 29. Dezember begehen, ist bis heute beeindruckend. Sie gründete eine Erwerbsschule für verwahrloste Kinder, ein Krankenhaus, ein Altenheim. Ihre Armenfürsorge half vielen Menschen durch zwei Hungersnöte, von denen die Region während ihrer Regierungszeit heimgesucht wurde.
Die Fürstin investierte Zeit, Kraft und Geld, um sich für die Verbesserung der Lebensumstände der Bewohner ihres kleinen Landes einzusetzen. Und damit hatte sie besonders die im Blick, die unter Armut litten und am Rand der Gesellschaft standen.
Pauline hat nie einen Hehl daraus gemacht, was sie dabei antrieb. Ihr soziales Engagement wurzelte in ihrem Glauben. In dieser Überzeugung hat sie einmal gesagt, dass Barmherzigkeit zu üben „erhabenster Gottesdienst“ sei.
Immer wieder gab es in der Geschichte der Kirche Menschen, die sich in besonderer Weise von diesem Gedanken der Barmherzigkeit anstecken ließen, die diesen Satz für sich groß machten: „Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.“ Die Kirche mit ihrer Diakonie ist damit immer wieder in eine Bewegung mit hineingenommen worden, sich den Armen und denen am Rande zuzuwenden. Eine Übersetzung des lateinischen Wortes für Barmherzigkeit Misericordia lautet nicht von ungefähr: „das Herz beim Armen haben“.
Zu Weihnachten feiern wir diese Barmherzigkeit Gottes. Gott hat ein großes Herz für seine Menschen, so groß, dass er sich selbst auf den Weg zu ihnen macht, um sich ihrer anzunehmen. Zuerst also widerfährt uns Barmherzigkeit. Das kann uns selbst barmherzig machen. Das hilft uns, selbst ein großes Herz zu gewinnen.
Ein Blick, der Leben verändert
Gerade in dieser Zeit der Corona-Pandemie ist es so wichtig, barmherzig miteinander zu sein. Wir erleben das – Gott sei Dank – auf vielfältige Weise. Menschen stehen einander bei in der Nachbarschaft und kümmern sich um die, die allein sind. Sie unterstützen andere in der Nähe und in der Ferne, die von den wirtschaftlichen Folgen der Pandemie besonders betroffen sind.
Die Jahreslosung ermutigt zur Barmherzigkeit. Dabei können wir nicht alle eine Fürstin Pauline sein. Aber vielleicht können wir etwas von ihrem Blick auf die Menschen gewinnen, der sich aus Gottes Barmherzigkeit speist. Wo wir andere so anschauen, wird es ihr Leben verändern.