Berlin – Muss eine psychiatrisch erkrankte Frau mit gestreutem Krebs zwangsweise eine Chemotherapie erhalten? Können Drogenabhängige mit psychotischen Schüben ihre Sucht durch eine Zwangseinweisung überwinden? Über solche Fragen sprach der Deutsche Ethikrat bei der öffentlichen Anhörung zum Thema Zwang in der Psychiatrie in Berlin. Mit Hilfe der Erfahrungen und Einschätzungen der Sachverständigen will der Rat nun eine Stellungnahme für weitere gesetzliche Vorhaben erarbeiten.
Zwang in der Psychiatrie möglichst vermeiden
Ethikrat-Vorsitzender Peter Dabrock sagte zum Auftakt, der Rat wolle sich mit der Anhörung „den harten und dunklen Seiten“ der psychiatrischen Praxis stellen und erfahren, unter welchen Bedingungen Zwangsmaßnahmen angewendet werden. Er wolle aber auch danach fragen, wie Zwang in der Psychiatrie möglichst vermieden werden kann.
Für den Patientenvertreter Jurand Daszkowski ist klar: Psychiatrische Zwangsmaßnahmen stellen einen tiefen Eingriff in die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen dar. „Zwangsbehandlung gilt eindeutig als Körperverletzung“, sagte er. Auch schon die Androhung, bei Verweigerung von Medikamenten durch eine dann notwendige Rundum-Betreuung das Wahlrecht zu verlieren, sei „subtiler Zwang“.
Wie viele Menschen bundesweit aufgrund psychiatrischer Störungen in geschlossene Abteilungen eingewiesen oder beispielsweise zwangsernährt werden, ist nicht bekannt. Weder gebe es darüber Zahlen, noch wisse man, wie oft Freiheitsentzug angewendet würde, sagte Matthias Rosemann, Vorsitzender der Bundesarbeitsgemeinschaft Gemeindepsychiatrischer Verbünde. In der Diskussion seien deshalb alle auf die subjektiven Erfahrungen der Betroffenen, aber auch des Klinikpersonals angewiesen.
Rosemann spricht von einem „ethischen Dilemma“, wenn es um die Entscheidung gehe, ob ein Mensch gegen seinen Willen zwangsbehandelt werde. „Wir müssen einschreiten, um die Menschen vor der Zerstörung ihrer eigenen Lebensgrundlage zu schützen“, sagt er. Das beginne bereits damit, dass Menschen durch ihre Krankheit ihre Wohnung verlieren könnten. Vielfach führe das nach einem Klinikaufenthalt in die Obdachlosigkeit.
Gleichsam wertete er den Ruf nach einer Unterbringung in einer geschlossenen Abteilung als „Hilferuf der Institution“, weil die Zuständigen nicht mehr weiterwüssten. Deshalb forderte er, dass alle Beteiligten – Ärzte, Therapeuten, Pflegepersonal, Angehörige und die Betroffenen selbst – gemeinsam über die individuelle Situation entscheiden sollten.
Der Berliner Amtsarzt und Leiter des Sozialpsychiatrischen Dienstes in Pankow, Detlev Gagel, plädiert ebenfalls für mehr Beteiligung der Betroffenen an Behandlungsentscheidungen – auch, wenn sie in einer Patientenverfügung eine Behandlung ablehnten. Zugleich müsse sich die Gesellschaft jedoch fragen, ob sie bereit sei, Leben jenseits der Norm zu ertragen. Denn zunehmend würden Menschen mit psychiatrischen Erkrankungen, die etwa in Wohngruppen leben, von Nachbarn und Passanten als störend empfunden.