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Ein Chor zu Gast in Israel

Rund 40 Sängerinnen und Sänger treten eine Konzertreise nach Israel an. Der Chor unter der Leitung des Gütersloher Kreiskantors singt dann auch auf hebräisch. Natürlich erlebt die Gruppe im Nahen Osten auch allerhand. Ein Erfahrungsbericht

Drei Minuten vor acht. Gleich geht es los. Ich stehe mitten in einem Pulk von 15 Männern und 25 Frauen. Und ich trage eine Kippa, die traditionelle jüdische Kopfbedeckung für Männer. Langsam werde ich nervös. Denn das Publikum ist groß. Kein Platz ist mehr frei in der Synagoge. Mitten in Jerusalem.

Drei Wochenenden intensive Proben

Dabei habe ich schon seit 20 Jahren nicht mehr im Chor gesungen. Bis Ende des vergangenen Jahres die freundliche Einladung von Johannes Vetter, Kreiskantor des Evangelischen Kirchenkreises Gütersloh, in meinem E-Mail-Postfach landet. Konzertreise durch Israel? Das klingt verlockend. Dazu noch zeitgenössische jüdische Literatur, die aufgeführt werden soll. Mehr Argumente braucht es nicht. Ich bin dabei. So wie die 40 anderen Sängerinnen und Sänger. Und so wie das Bläserensemble Zion unter der Leitung von Joachim von Haebler.
Drei Wochenenden proben wir intensiv. Beschäftigen uns mit der hebräischen Sprache und den unterschiedlichen Aussprachetraditionen. Denn wir singen den Großteil der Stücke in dieser Sprache, die für die meisten von uns fremd ist. Wir singen sie in der evangelischen Erlöserkirche mitten in der Jerusalemer Altstadt. In Beit Jala, der palästinensischen Stadt, in der so viele Christen wohnen. Und in der liberalen Synagoge Mevakshej Derech. Sprache und Musik fordern uns heraus. Was trägt ist das gemeinsame Ziel: Als Deutsche bringen wir in Israel jüdische Musik zu Gehör.

Werke jüdischer Komponisten gesungen

Schnell lasse ich meine Finger noch einmal durch die Noten wandern. Da sind die beiden Psalmvertonungen von Louis Lewandowski im romantischen Stil. Und da ist die Freitagabend-Liturgie für Kantor, gemischten Chor und Orgel des jüdischen Komponisten Heinrich Schalit. 1933, kurz vor der Machtergreifung Hitlers, hat er das Werk herausgegeben. Ein Jahr zuvor wurde es in Berlin uraufgeführt. Während Dirigent und Kantor dieser Aufführung in der Synagoge Lützowstraße später in KZs umgebracht wurden, überlebte Schalits Liturgie in den Archiven.
Nach einer kurzen Einführung singen wir die beiden Lewandowskis. Adrian Büttemeier begleitet souverän an der Orgel. „Tags sticht dich die Sonne nicht“ – unweigerlich denke ich an die zweistündige Wüstenwanderung nach Jericho zurück: 35 Grad im Schatten verlangten uns alles ab. Und ich denke an Faten, die palästinensische Christin, die uns durch Bethlehem geführt und uns in ihrem Haus in Beit Jala großartig bekocht hat. Einen der Psalme singen wir ihr als Geburtstagsständchen.
Während uns Pastor Dietrich Fricke vom Bibeldorf in Rietberg vor der Reise empfohlen hat, mit einem Herz für Israelis und einem Herz für Palästinenser nach Israel zu fliegen, stellt uns Faten an diesem Tag die Folgen der israelischen Siedlungs- und Wasserpolitik vor Augen. Blühende Gärten auf der einen Seite. Knochentrockene Wüste auf der anderen Seite. Expandierende jüdische Siedlungen in unmittelbarer Nachbarschaft zur militärisch verriegelten Westbank. Die acht Meter hohe Mauer mit ihren Wachtürmen in und um Bethlehem ist Stein gewordenes Mahnmal für den stagnierenden Friedensprozess, den Israelis und Palästinenser noch vor sich haben.
Egal mit wem wir auf unserer Reise sprechen, weder Faten noch ihr Sohn Kamal, weder der Lutherische Probst noch der designierte Bischof Ibrahim Azar: Keiner hat große Hoffnungen, dass es bald Frieden im Land geben könne. Es ist merkwürdig. Wenn ich mit Israelis spreche, kann ich deren Position nachvollziehen. Wenn ich mit Palästinensern spreche, ist deren Haltung für mich plausibel. Dennoch scheint es beiden Parteien nicht möglich zu sein, weiter aufeinander zuzugehen. Es ist komisch: Je mehr ich höre und dazulerne, desto weniger verstehe ich.

Wenig Hoffnung auf dauerhaften Frieden

Dann kommt Schalits Freitagabendliturgie. Schon während der ersten Takte fällt mir auf, dass den Menschen, für die wir singen, die Texte vertraut sind. Viele murmeln mit. Mancher wagt sogar vorsichtig mitzusingen. Alles andere als zaghaft ist Paul Yuval Adam von der jüdischen Kultusgemeinde aus Bielefeld, der den Part des Kantors kongenial übernimmt.
Mist. Schon wieder habe ich nicht ganz sauber gesungen. Meine Konzentration lässt nach. Das ist sicher dem Klima geschuldet. Es ist heiß in Jerusalem. Die Konzertkleidung ist lang. Und schwarz. Dazu habe ich in der Nacht zuvor nicht besonders gut geschlafen. Denn um Punkt drei Uhr hat sich der Muezzin vom benachbarten Minarett gemeldet und dabei in rund 30 Minuten alles gegeben.
Kaum war er fertig, begann eine christliche Kirche nach der anderen die Glocken zu läuten. Wie ein Wettstreit „lauter, schriller, länger“. Jerusalem ist wie kaum eine andere Stadt auf der Welt vom Nebeneinander der Religionen geprägt. Wer auffallen will, muss lautstark auf sich aufmerksam machen. So kommt mir das Nebeneinander in dieser Nacht eher wie ein akustisches Gegeneinander vor.
Dass ich an diesem Abend in der Synagoge nicht so konzentriert bin wie sonst, liegt aber vor allem daran, dass wir schon ein paar Tage in Jerusalem und Umgebung unterwegs sind. Wir haben viel gesehen. Ich habe mit vielen Menschen gesprochen. Und etliche Dinge gehen mir nicht mehr aus dem Kopf.
Zum Beispiel die vielen Kontraste. Als wir abends in Jerusalem ankommen, ist die ganze Stadt auf den Beinen. Am Jaffa-Tor ertönt Popmusik aus großen Boxentürmen. Dazu werden Videos auf die Stadtmauer geworfen. Menschen tanzen ausgelassen auf den Straßen. Daneben die vielen orthodoxen Juden, die schnellen Fußes und mit voller Montur unterwegs sind. So sehr auf den alltäglichen Vollzug ihres Glaubens fixiert, dass sie in den schmalen Gassen der Altstadt Gefahr laufen, andere über den Haufen zu rennen.
Tanzen, das können sie auch, wie wir tags drauf am Sabbat in der Nähe der Klagemauer lernen. Dort treffen sie sich. Die Männer links, die Frauen rechts. In der Mitte eine Absperrung. Einige sind ins Gebet vertieft, bewegen ihre Oberkörper rhythmisch vor und zurück. Andere stehen im Kreis, legen sich gegenseitig die Arme auf die Schultern und fangen an, sich zur Musik zu drehen.
Etwas abseits spielt eine improvisierte Kapelle. Trommeln werden ekstatisch geschlagen, Saiteninstrumente gezupft, während sich Einheimische und Touristen durch die Menge zwängen. Schon fängt eine Gruppe Männer an lautstark zu singen, während mich ein geschäftstüchtiger Mann für ein paar Schekel segnen möchte.

Kameras und Soldaten verschaffen Sicherheit

Während ich weitersinge, sehe ich die vielen schwerbewaffneten Soldaten, die das Bild der Altstadt so sehr prägen, vor meinem inneren Auge. Doch erstaunlicherweise vermitteln sie mir das Gefühl von Sicherheit. Genau so wie die vielen Kameras, die an jeder Ecke hängen. Schon am zweiten Tag unserer Reise sind sämtliche Sicherheitsbedenken verflogen. Sie kehren erst zurück, als ich längst wieder in Deutschland bin, und ich eben jene Soldaten an Bahnhöfen und auf öffentlichen Plätzen vermisse.
Nach dem Konzert in der Synagoge erzählt uns eine Jüdin mit Tränen in den Augen, dass wir die hebräischen Texte so gesungen hätten, wie sie es von ihren Großeltern kannte, die später von den Nazis umgebracht worden seien.
Da beginne ich zu ahnen, warum Johannes Vetter, unser Dirigent und Reiseleiter, uns unmittelbar vor der Aufführung in der Erlöserkirche gestanden hat, dass diese Konzerte in Jerusalem die wichtigsten seiner bisherigen beruflichen Laufbahn seien.