Am 13. August 1998 – dem Jahrestag des Baus der Mauer in Berlin im Jahr 1961 – wurde das Denkmal Berliner Mauer als erster Teil der heutigen Gedenkstätte an der Bernauer Straße eingeweiht. Zusammen mit dem Dokumentationszentrum und der Kapelle der Versöhnung entstanden bis zur Jahrtausendwende künstlerische, dokumentarische und spirituelle Zugänge zum historischen Ort und den Zeugnissen der Vergangenheit der geteilten Stadt.
Im August vor 25 Jahren hätte sich niemand träumen lassen, dass das Open-Air-Gelände der Gedenkstätte einmal jährlich 750000 Besucherinnen und Besucher anziehen würde. Kontroverse Diskussionen um eine adäquate Erinnerung an die Teilung Berlins und ihre Opfer gab es seit Anfang der 1990er Jahre. Der Beschluss des Ost-Berliner Magistrats am 2. Oktober 1990, den über den Sophien-Friedhof verlaufenden Grenzabschnitt unter Denkmalschutz zu stellen, war die Basis für den Gedenkort.

Kampf um einen Mauerabschnitt
Monate vorher hatte sich eine Arbeitsgruppe gebildet, die an einem Konzept für den Erhalt von Mauerteilen an der Bernauer Straße arbeitete. Neben Mitarbeitern des Museums für Deutsche Geschichte und des Deutschen Historischen Museums engagierten sich besonders Pfarrer Manfred Fischer, sein Mitarbeiter Rainer Just und Mitglieder der evangelischen Kirchengemeinde Versöhnung. In zahlreichen Gesprächen hatten sie die sogenannten Mauerspechte um Einhalt gebeten und Abrissversuche von Baufirmen verhindert.
1994 wurde ein Wettbewerb für die Gestaltung eines Denkmals für die Opfer des Mauerbaus und in Erinnerung an die Teilung ausgelobt. Auf Initiative des Berliner Senats und in Zusammenarbeit mit der Versöhnungsgemeinde gründete sich der „Verein Berliner Mauer“ als Trägerverein für ein Dokumentationszentrum, in dem Sachinformationen und eine historisch-politische Bildungsarbeit angeboten werden sollten. Zum zehnten Jahrestag des Mauerfalls, am 9. November 1999, wurde es im Gemeindehaus der Versöhnungsgemeinde eröffnet; genau ein Jahr später wurde dann die Kapelle der Versöhnung auf dem ehemaligen Grenzstreifen eingeweiht.
Im Jahr 2006 verabschiedete der Berliner Senat das Gesamtkonzept zur Erinnerung an die Berliner Mauer, das die verschiedenen Mauerorte in Berlin vernetzen und stärken sollte. In diesem Rahmen wurde das Erinnerungsensemble an der Bernauer Straße zur zentralen Gedenkstätte an die Teilung der Stadt. Seither steigen die Besucherzahlen stetig an und die Gedenkstätte ist ein Ziel für ein breit gefächertes Publikum geworden.
Kirche lebt inmitten der Gedenkstätte
Inmitten dieser renommierten Gedenkstätte lebt Kirche. Die Kapelle der Versöhnung liegt auf der Grenze zwischen den Berliner Stadtteilen Wedding und Mitte. Sie ist ein architektonisches Kleinod. Mehrere Hundert Interessierte aus aller Welt besuchen sie täglich. Der schlichte Stampflehmbau ist wie die Gedenkstätte das Resultat eines partizipativen Prozesses: klimaneutral, zu zwei Dritteln aus den Bruchstücken der 1985 gesprengten Versöhnungskirche und auf ihren Fundamenten errichtet. Der kleine Kapellenbau ist das spirituelle Zentrum der Gedenkstätte.

In einem Spannungsfeld, geprägt von Teilung und Unerreichbarkeit, agieren die Gemeindemitglieder und die haupt- und ehrenamtlichen Akteure der kirchlichen Bildungsarbeit am Erinnerungsort. In großer Zahl engagieren sich auch Menschen ohne eine formale Kirchenzugehörigkeit, die sich aber der kleinen Gemeinde, ihren Aufgaben und Möglichkeiten angesichts besonderer Öffentlichkeit verbunden fühlen.
Die Kapelle ist zugleich Teil der Erinnerungskultur und Ort lebendiger Versöhnung: Sowohl anlässlich der offiziellen Gedenktage und Jubiläen zum 13. August und 9. November als auch in den Sonntagsgottesdiensten oder den täglichen Andachten, in denen jeweils an die Biographie eines Toten an der Berlin Mauer erinnert wird, hören die zahlreichen Besuchergruppen von Versöhnung im Schatten der Mauer und dem Wirken der Weddinger Kirchengemeinde. Spirituelle Formate und Rituale, die über den Rahmen einer Führung oder eines Workshops hinausgehen, schaffen Verbundenheit mit der Vergangenheit, den Schicksalen der Menschen und mit den Möglichkeiten für die Gegenwart.

Gemeindeleben und kirchliche Bildungsarbeit am Erinnerungsort Bernauer Straße wurzeln in Gedenken und Erinnerung. Aus direktem, spirituellem Erleben und durch persönliche Begegnungen kann Sensibilisierung erwachsen für historische und gesellschaftliche Zusammenhänge von Mauern, Flucht und Ausgrenzung.
Offene Türen in jedem Sinne
Dafür bedarf es geöffneter Türen und Offenheit in jedwedem Sinne und mit Schritten auf die Gäste und Interessierten zu. Sie ermöglichen Begegnungen und fruchtbare Bildungsarbeit, die Grenzen überwindet und nachhaltig wirkt.
Diese Verbindung von Erinnerungsort und einer lebendigen Kirchengemeinde und Gemeinschaft von Menschen als ihr Träger ist einzigartig und unterscheidet sich von allen anderen kirchlichen Gedenkorten, die in der Bundesrepublik als Teil von Gedenkstätten existieren. Für die Arbeit des Kirchenkreises Berlin-Nordost gehört diese Konstellation von Öffentlichkeit, der kirchengemeindlichen Arbeit und Anbindung in der Gemeinderegion am Gesundbrunnen zu seinem Selbstverständnis.

Erinnerungskultur im Rahmen der Kirche
Der Predigttext für den Sonntag steht im fünften Buch Mose (4,5-20). Die Verse enthalten die Weisung: „Hüte dich nur und bewahre deine Seele gut, dass du nicht vergisst, was deine Augen gesehen haben, und dass es nicht aus deinem Herzen kommt dein ganzes Leben lang.“ Dieser auch als „Israel-Sonntag“ bezeichnete Tag gehört also zur geistlichen Erinnerungskultur der Kirche. Am Gedenktag des Mauerbaues werden die Ereignisse unserer politischen Geschichte zusammen gesehen mit den mehr als 3000 Jahre zurückreichenden Spuren des biblischen Textes.
Im Gemeinschaftsgarten NiemandsLand direkt hinter der Kapelle der Versöhnung fand am 13. August 2023 ein Gottesdienst zum 62. Jahrestag des Mauerbaus statt. Die Kapelle der Versöhnung ist von Dienstag bis Sonntag von 10 bis 17 Uhr geöffnet.