Mitte August 2021 erlebt die Nato in Kabul ein „Saigon-Szenario“. Die Bilder von verzweifelten Menschen, die sich an das Fahrwerk einer US-Militärmaschine am Flughafen von Kabul klammern, haben sich in das kollektive Gedächtnis eingebrannt. Die dramatischen Bilder der Evakuierungsmission stehen exemplarisch für das chaotische Ende der fast 20 Jahre langen Mission in Afghanistan. Seit der Machtübernahme Kabuls am 15. August 2021 haben die Taliban im ganzen Land wieder das Sagen.
Seit rund zwei Jahren arbeiten zwei parlamentarische Gremien die Rolle Deutschlands während des Einsatzes in Afghanistan auf. Der Untersuchungsausschuss Afghanistan befasst sich vorwiegend mit dem Abzug der Bundeswehr und der Evakuierungsmission. Die Enquete-Kommission des Bundestages, in der auch nicht parlamentarische Expertinnen und Experten vertreten sind, untersucht die deutsche Rolle in der Nato-Mission von 2001 bis 2021.
„Einer der wesentlichen Gründe für das Durcheinander war sicherlich das fehlende Interesse am Land selbst“, sagt der Bundestagsabgeordnete und Vorsitzende des Untersuchungsausschusses Afghanistan, Ralf Stegner (SPD) rückblickend. Die Kenntnisse über Afghanistans ethnische Vielfalt und die komplexen Machtverhältnisse seien im Westen zu gering gewesen. Zudem hätten sich die Ziele des Einsatzes wiederholt geändert, das habe nicht zuletzt die Zusammenarbeit zwischen den zuständigen Ressorts erschwert, die teilweise auch eigene Interessen verfolgten.
Das bestätigt auch der Konfliktforscher Conrad Schetter: „Betrachtet man den gesamten Einsatz, entsteht der Eindruck, dass die Sicherheit der Soldaten Vorrang hatte, nicht die der afghanischen Bevölkerung“, sagt der Direktor des Bonn International Centre for Conflict Studies (BICC) dem Evangelischen Pressedienst (epd). Die Truppen hätten sich demnach in Kundus und Faizabad „eingeigelt“ und nur selten die Feldlager verlassen. Persönlichen Kontakt mit der afghanischen Bevölkerung habe es kaum gegeben, sagt Schetter.
Die Politik hat Ralf Stegner zufolge bereits erste Lehren aus dem Afghanistaneinsatz gezogen. „Man kann sicherlich schon heute sagen, dass die Bundeswehrmandate des Bundestags realistischer sind“, sagt der SPD-Politiker. Die Mandatstexte würden im Vergleich zum Afghanistaneinsatz nüchtern gehalten.
Die wechselnde Zielsetzung des Einsatzes, die Uneinigkeit der deutschen Ressorts und die fehlende Kommunikation mit den internationalen Partnern endete nicht selten in Fehlplanungen. Schetter berichtet, dass es beispielsweise vorkam, dass eine deutsche NGO an einem Ort eine Schule baute, während eine amerikanische Organisation in derselben Region eine Straße anlegte – jedoch ohne die Schule anzubinden.
Trotz aller Schwierigkeiten haben die internationalen Kräfte Afghanistan nicht völlig zerstört zurückgelassen. „Ein Großteil der in den vergangenen 20 Jahren aufgebauten Infrastruktur, wie Straßen und Schulen, ist noch intakt“, sagt Schetter, der im vergangenen Jahr selbst in Afghanistan war. In den afghanischen Ministerien arbeiteten auf der unteren Ebene zudem weiterhin viele Angehörige der alten Regierung. Dadurch funktionierten die Strukturen besser, als man es unter den Taliban erwartet hätte, sagt Schetter. Auch dürfe man die Zivilgesellschaft nicht vergessen, die sich in den städtischen Gebieten entwickelt hat und die weiterhin für Menschen-, Frauen- und Pressefreiheit eintritt und sich gegen die rigide Politik der Taliban stellt.
Stegner sieht heute noch eine Verantwortung Deutschlands für Afghanistan, auch aufgrund der „teils dramatischen humanitären Situation“. Diese werde auch in Zukunft zumindest niedrigschwelligen Kontakt zu den aktuellen Machthabern erfordern. Auch Konfliktforscher Schetter ist sich sicher: „An den Taliban führt kein Weg vorbei. Entweder man arrangiert sich mit ihnen oder man muss das Land verlassen“. Aber natürlich sei es schwierig, mit den Taliban zusammenzuarbeiten, besonders in Zeiten feministischer Außen- und Entwicklungspolitik, räumt er ein.
Auch laut der Obfrau der Grünen in der Enquete-Kommission, Schahina Gambir, trägt Deutschland eine Mitverantwortung für die aktuelle Situation in Afghanistan. Sie fordert die Bundesregierung auf, dieser Verantwortung stärker nachzukommen. Die Kürzung der Haushaltsmittel für humanitäre Hilfe, wie vom Finanzminister vorgesehen, stünden dem entgegen. Gleichzeitig setzt sie sich für eine Weiterführung und Beschleunigung des Bundesaufnahmeprogramms für besonders gefährdete Afghaninnen und Afghanen ein. Derzeit wird in der Bundesregierung über die Zukunft des Programms gerungen. Für Gambir ist klar: „Die Menschen erneut im Stich zu lassen, kommt nicht in Frage.“