Zweimal hat das als extremistisch eingestufte Netzwerk “Muslim Interaktiv” jüngst in Hamburg demonstriert – weitere Aktionen sind geplant. Die Aufregung und das Unverständnis waren nicht nur in der Politik groß. Auch Muslime hätten die Aufmärsche verurteilt, denn sie schadeten dem Ansehen aller Muslime in Deutschland, erklärt Pastor Sönke Lorberg-Fehring. Er ist Referent für den Christlich-Islamischen Dialog am Zentrum für Mission und Ökumene der Nordkirche.
Wie sehr schaden die Aktionen von “Muslim Interaktiv” Muslimen in Deutschland?
Lorberg-Fehring: Sie schaden dem Ansehen der Muslime enorm. Viele sind genauso erschrocken über die Aufmärsche wie die Mehrheitsgesellschaft. Die Schura Hamburg und Ditib Nord haben sich scharf von “Muslim Interaktiv” abgegrenzt. Das zeigt aus meiner Sicht erneut die Bedeutung der Staatsverträge. Es ist wichtig, dass diese islamischen Verbände von der Politik ernst genommen und in ihrem Einsatz gegen den Extremismus unterstützt werden. Die Auseinandersetzung mit Radikalen, egal welcher politischen oder religiösen Richtung, sollte eine gemeinsame Aufgabe aller Demokraten sein. Spaltung ist genau das, was Extremisten wollen. Wir sollten nicht auf sie hereinfallen.
Wie wirken sich die Aktivitäten auf den christlich-muslimischen Dialog aus?
Wir haben zum Glück mit unseren muslimischen Kolleginnen und Kollegen über viele Jahre gemeinsam sehr gute und vertrauensvolle Beziehungen aufgebaut. Wir sind uns einig, dass wir extremistischen Gefahren zusammen entgegenwirken müssen. Auch das Interreligiöse Forum Hamburg, in dem die Kirchen und die anderen großen Religionsgemeinschaften zusammenarbeiten, hat die Aufmärsche der Extremisten am Steindamm verurteilt.

Am Rande der Demonstration hat ein muslimischer Vater – er war mit Frau und Kind dort – auf die Demonstration gezeigt und gesagt: “Das ist nicht mein Glaube, nicht mein Islam. Der redet Unsinn.” Wie kritisch sehen Muslime das Netzwerk?
“Muslim Interaktiv” ist eine radikale Minderheit, die aber versucht, ihren Einfluss auszubauen. Diese Gruppierung macht sich das tiefe Erschrecken vieler Muslime über das schreckliche Leiden der Menschen in Gaza zunutze. Besonders das Gefühl der Hilflosigkeit und die Sorge, dass Solidarität mit den notleidenden Zivilisten in Gaza als Ignoranz gegenüber den israelischen Opfern ausgelegt werden könnte, verunsichert die muslimische Community. Gleichzeitig gibt es im muslimischen Kontext viel Ärger darüber, dass die hohe Zahl der palästinensischen Toten ihrem Gefühl nach allzu leicht von der deutschen Politik und Öffentlichkeit in Kauf genommen wird.
Diese Stimmung nutzt “Muslim Interaktiv” für seine radikale Agenda hemmungslos aus. Auch die Umdeutung von Begriffen wie “Kalifat”, die eigentlich einen positiven theologischen Hintergrund haben, ist gefährlich. Denn hinter dem Kalifatsbegriff von “Muslim Interaktiv” versteckt sich tatsächlich ein faschistischer, absolutistischer und autoritärer Staat – das ist vielen Muslimen nur nicht in dieser Deutlichkeit bewusst.
Hinzu kommt, dass die Forderung eines “Kalifats” auf den Aufmärschen von “Muslim Interaktiv” eine auch aus dem Christentum bekannte Schwierigkeit ausnutzt: Viele theologische Begriffe haben auch eine politische Dimension. Die islamische Vorstellung vom “Kalifat” ist in diesem Sinne vergleichbar mit der Idee von einem “Reich Gottes” im Christentum. Auch christliche Kaiser haben sich als Vollstrecker des “Reiches Gottes” gesehen. Wenn wir als demokratische Christen heute im Vaterunser beten: Dein Reich komme, verbinden wir damit aber ebenso wenig den Wunsch nach einem absolutistischen Kaiser, wie viele Muslime die Rede vom “Kalifat” mit den Schrecken des IS verbinden. Deswegen fällt es vielen Muslimen nicht leicht, die Rede vom “Kalifat” zu verurteilen.
Wie gefährlich ist das Netzwerk Ihrer Meinung nach?
Es ist immer gefährlich, wenn eine allgemeine Angst und Hoffnungslosigkeit auf geschickte Extremisten treffen. Die Erinnerungen an die Demos gegen die Corona-Maßnahmen oder die Pegida-Aufmärsche sind hier ein gefährliches Vorbild. “Muslim Interaktiv” ähnelt dem Auftreten der “Reichsbürger” auf unheimliche Weise. Beide sind eine reale Bedrohung für das friedliche Ausleben von Religionen und das vertrauensvolle Zusammenleben unterschiedlicher Menschen. Wir sollten daher sehr wachsam sein.