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Deutschland 1946: Ein Land in Trümmern, ein Land im Aufbruch

Es war ein Jahr zwischen Trümmern und Neuanfang. 1946 gingen die Deutschen erste Schritte in Richtung einer veränderten Gesellschaft. Ein neues Buch beschreibt das widersprüchliche Panorama einer Pionierzeit.

Es war das Jahr eins nach Adolf Hitler. Oder die Stunde Null, wie manche Historiker im Nachhinein schrieben. Klar ist: Das Jahr 1946 stellt einen dramatischen Wendepunkt der deutschen Geschichte dar.

Die Historiker Hauke Friederichs und Rüdiger Barth erzählen in ihrem neuen Buch “Deutschland 1946” Monat für Monat, was damals geschah. Der Untertitel “Das Wunder beginnt” zeigt dabei, dass die Autoren den Schwerpunkt auf die Aufbrüche, Chancen und die positiven Entwicklungen legen. Sie sprechen von einer Pionierzeit oder “einem Jahr in der Schwebe”. Von einem Aufbruch, der zu Großem führt.

Ein Optimismus, der dem Lebensgefühl vieler damaliger Menschen nicht entsprochen haben dürfte. Denn es herrschten Hunger, Elend und Verzweiflung; viele Städte lagen in Trümmern. Vertreibungen, Racheakte und Rassismus waren gang und gäbe. Nach Jahren der Trennung waren die Ehen vieler Soldaten zerrüttet. Im Kino lief der Film “Die Todesmühlen”, der Bilder von Leichenbergen, hohlwangigen Überlebenden und Tätern der Konzentrationslager zeigt – für viele Deutsche nur amerikanische Propaganda.

Millionen Menschen wurden vermisst; geschätzt eine halbe Millionen Kinder wussten nicht, wo ihre Eltern waren. 1946 war deshalb auch die Geburtsstunde verschiedener Suchdienste von Hilfsorganisationen und Kirchen. Auch die Monatszeitschrift für Kinder “Pinguin” half durch Fotos und Suchanzeigen mit. Herausgeber war Erich Kästner.

Die Machart des Buches hat sich inzwischen fest etabliert. Bücher, die Jahreszahlen im Titel tragen, haben Konjunktur und lassen sich auch für Nicht-Historiker gut lesen: Ob Florian Illies mit “1913. Der Sommer des Jahrhunderts”, Heinz Schilling mit “1517. Weltgeschichte eines Jahres”, Frank Bösch mit “Zeitenwende 1979. Als die Welt von heute begann”, Uwe Wittstock mit “Februar 33. Der Winter der Literatur” oder Jutta Hoffritz mit “Totentanz. 1923 und die Folgen”: Aus Briefen, Tagebüchern, Reden und Artikeln zeichnen die Autoren ein gut zu lesendes Kaleidoskop von kurzen Texten über eine vermeintlich wegweisende Zeit.

Auch die Historiker und Journalisten Friederichs und Barth haben 2019 bereits ein Buch vorgelegt, das die dramatischen letzten zehn Wochen der Weimarer Republik vom November 1932 bis in den Februar 1933 Tag für Tag in Reportageform nacherzählt.

1946 hat aus dieser Perspektive viel zu bieten: In Nürnberg werden führende Nationalsozialisten zum Tode verurteilt. Hildegard Knef kommt ins Kino, und der Kriegsheimkehrer Wolfgang Borchert schreibt erste Geschichten. Frankfurts Zoodirektor Bernhard Grzimek schlägt eine Karriere als Polizeipräsident aus und sorgt dafür, dass in seinem Tierpark wieder Elefanten leben. Die ehemalige Luftwaffenpilotin Beate Uhse legt den Grundstein für ihren Sex-Versandhandel. Grete Schickedanz rettet “Quelle” und Fritz Walter aus Kaiserslautern trainiert französische Soldaten. In Berlin nimmt die Pharmafirma Schering als erstes deutsches Unternehmen die Produktion von Penicillin auf – ein Medikament, das Millionen Menschen das Leben retten wird.

Auch die Politik kommt nicht zu kurz. Eine demokratische Gesellschaft formiert sich. Die ersten freien Kommunalwahlen seit 1933 finden statt. Willy Brandt, als Reporter für norwegische Zeitungen beim Nürnberger Prozess, träumt von einer Karriere in der SPD. In der Ostzone schieben sich Walter Ulbricht und Erich Honecker in wichtige politische Funktionen, im Westen lehnt Kurt Schuhmacher, durch mehr als zehn Jahre in Konzentrationslagern gesundheitlich schwer angegriffen, eine Zusammenarbeit der SPD mit den Kommunisten strikt ab. Und Konrad Adenauer baut seine Machtstellung in der CDU aus.

Das packende Panorama des Jahres 1946 fördert historische Nachdenklichkeit. Denn es erlaubt, die Entscheidungszwänge und Widersprüchlichkeiten der damals handelnden Personen nachzuvollziehen. Wie wäre man selber beispielsweise mit Hans Globke umgegangen – Adenauers erfahrenem Chef des Bundeskanzleramts, aber tief verstrickt in den NS-Verfolgungsapparat und Autor des offiziellen juristischen Kommentars zu den Nürnberger Rassegesetzen von 1935? Nach Kriegsende fahndeten die Alliierten nach ihm und setzen ihn auf einer Kriegsverbrecherliste auf Rang 101. Dass sie ihn nicht verhafteten und anklagten, lag an einem Deal: Globke sollte Immunität erhalten, wenn er bei den Nürnberger Prozessen Material über den früheren Reichsinnenminister Wilhelm Frick und auch Hitlers langjährigen Stellvertreter Hermann Göring vorlege.