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Deutscher Priester und Poet Stephan Wahl zur Lage im Heiligen Land

Für Überlegungen nach den Ursachen und Folgen des Krieges der Hamas gegen Israel ist es nach Worten von Stephan Wahl (63) zu früh. “Es ist die Zeit, mit den Opfern zu weinen”, sagt der in Jerusalem lebende Trierer Diözesanpriester, Poet und frühere Sprecher des “Wortes zum Sonntag” im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA). Wer jetzt noch glaube, dass eine Brücke zwischen Israelis und Palästinensern gelingen könne, sei naiv. Trotzdem sei er nicht bereit, die Hoffnung aufzugeben.

KNA: Herr Wahl, wie erleben Sie die aktuelle Situation?

Stephan Wahl: Ich lebe im arabischen Ostjerusalemer Stadtviertel Schuafat relativ sicher. Es müsste schon ein technischer Fehler oder Unfall passieren, wenn hier eine Rakete einschlüge. Ich war aber am Samstag völlig überrascht, wie vermutlich alle, als die Warn-App die ersten Abschüsse meldete. Der erste Gedanke war: nicht schon wieder! Ich dachte, dass es ein paar Raketen und dann Gegenreaktionen geben werde und es dann bald vorüber sei. Doch es wurde schnell klar, dass das eine ganz andere Kategorie ist. Irgendwann bin ich erschrocken, weil mir bewusst geworden ist: Stephan, Du bist im Krieg. Zwar war ich im Studium 1981/82 während des Libanon-Kriegs hier. Aber was jetzt passiert, erlebe ich noch viel direkter.

KNA: Bleibt das Gefühl der Überraschung, oder haben Sie für sich Antworten finden können, wie es dazu kommen konnte?

Wahl: Im Moment ist nicht die Zeit zu überlegen, wie es dazu kam und welche Folgen das hat. Es ist die Zeit, mit den Opfern zu weinen. Die Zahlen sind unvorstellbar, auf der einen und auf den anderen Seite. Ich tue, was ich kann: meine Texte schreiben und versuchen, das Unsagbare in Worte zu fassen, oder mich ganz praktisch in die lange Schlange zu stellen, um Blut zu spenden. Irgendwann kann man dann die anderen Fragen stellen.

Es gibt auf keinen Fall irgendeine Rechtfertigung für diese Massaker; sie lassen sich nicht mit der israelischen Besatzung entschuldigen. Ich werde nie verstehen, wie ein Mensch in der Lage ist, auf eine Rave-Party zu gehen und junge Leute zu erschießen, in ein Haus zu gehen und ein Kind zu erschießen. Das kann man mit keinem ideologischen oder politischen Hintergrund rechtfertigen.

Auf der anderen Seite ist der Kessel geplatzt. Es ist kein Geheimnis, dass die Besatzung das Grundproblem ist zwischen Israel und Palästina, und das bleibt bestehen. Wer jetzt noch Hoffnung hat, dass sich jetzt noch irgendeine Brücke zwischen beiden Parteien bauen lässt, ist naiv. Die Spaltungen werden noch viel härter und der Hass noch viel stärker werden, als sie jetzt schon sind.

KNA: Kann man sagen, dass jene, die in den vergangenen Jahren weiter an der Zwei-Staaten-Lösung und einem Friedensprozess festgehalten haben, naiv waren und nun aufwachen müssen?

Wahl: Auf keinen Fall. Im Gegenteil. Sie hätten sich besser stärker durchgesetzt. Nach dem schrecklichen Mord an Jitzchak Rabin ist alles den Bach runtergegangen. Damals sind Brücken gebaut worden, die man hätte befestigen müssen. Aber die sind längst nicht mehr begehbar. Ich habe die Optimisten auf beiden Seiten immer bewundert, die trotz allem daran festgehalten haben, dass wir eine Lösung finden müssen. Sie werden jetzt von allen als die Naiven dargestellt – aber sie lagen nicht falsch.

KNA: Sehen Sie eine Perspektive?

Wahl: Ich habe Träume. Ich habe den seit Samstag noch utopischeren Traum, es gäbe auf beiden Seiten richtig gute, vernünftige Anführer, die über ihren und andere Schatten springen und sagen: Lass uns zusammensetzen – egal wie viele Wunden wir uns geschlagen haben; und die sich fragen, ob sie nicht gemeinsam einen neuen Weg gehen und ein Land mit zwei Völkern schaffen können.

Dieser Traum ist sehr unrealistisch. Es fehlen die charismatischen Gestalten, die den Mut haben, über ihren Schatten zu springen. Trotzdem weigere ich mich, im absoluten Pessimismus zu ertrinken, sondern hoffe und bete darum, dass kein Hass in mir wächst und ich die Hoffnung auf Änderung nicht verliere. Wer hätte zum Beispiel daran gedacht, dass Menachem Begin der erste sein wird, der Frieden mit einem arabischen Land schließt, oder dass Jitzchak Rabin Jassir Arafat die Hand reicht. Das war jahrelang undenkbar. Ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass Dinge passieren können, die niemand erwartet.