Goethe ist so etwas wie eine deutsche Nationalikone. Der Dichter, Politiker und Naturwissenschaftler wurde am 28. August vor 275 Jahren geboren. Er war ein Wanderer durch viele Welten.
Es waren bewegte Zeiten damals, fast so stürmisch wie heute. Was hat Johann Wolfgang Goethe (1749-1832), der am 28. August vor 275 Jahren in Frankfurt das Licht der Welt erblickte, in seinem langen Leben nicht alles erlebt: die Französische Revolution, den Untergang Alteuropas, die Eroberungen Napoleons und seine Niederlage, die Neuordnung des Kontinents nach dem Wiener Kongress, die beginnende Industrialisierung und damit die Anfänge der Moderne.
Insbesondere im “Faust”, dem Nationalepos der Deutschen, spiegelt sich Goethes Lebensspanne wider: Aus dem frühneuzeitlichen Gelehrten und Alchemisten Faust entwickelt sich im Drama ein Wissenschaftler, der Kolonisierungsprojekte plant, mit Dampfmaschinen arbeitet und Menschen züchtet. Kein Wunder, dass Faust heutzutage als Symbolfigur einer aus den Fugen geratenen Globalisierung und Wissenschaft interpretiert wird.
Goethe als Wanderer zwischen den Welten; als freier, widersprüchlicher und kritischer Geist, der alles aufsaugen und verstehen wollte, was ihn umgab. Als ruheloser Dichter, der sich – vom Sturm und Drang über die Weimarer Klassik bis zum teilweise avantgardistisch wirkenden Alterswerk – immer wieder neu erfand. Als Wissenschaftler, der sich für die Theorie der Farben und des Lichts, die Geologie, die Mineralogie und den Abbau von Kupfer, Eisen und Silber interessierte. Oder als Jurist und Politiker, der 1775 der Einladung von Herzog Carl August nach Weimar folgte und als Ratgeber, Leiter der Bergwerkskommission, der Wege- und Wasserbaukommission, als Leiter der Kriegskommission und später noch als Finanzminister dem Herzogtum zu Wohlstand verhelfen wollte – nicht selten mit Misserfolgen.
War er nun ein “Meister des Lebens”, der “geistigen Reichtum, schöpferische Kraft und Lebensklugheit” vereinte, wie sein Biograph Rüdiger Safranski 2018 schrieb? Oder war er auch, wie sein Biograph Thomas Steinfeld 2024 ihn beschreibt, ein Schriftsteller und Politiker mit der “Neigung zu Missmut, Bitterkeit, Resignation”. Ein Intellektueller, der seiner Zeit und dem Alltagsleben gegenüber Fremdheit und Melancholie empfand – mit dem Wunsch, Weimar Weimar sein zu lassen und einfach nur abzuhauen.
Dichterfürst, Genie und Ikone des bürgerlichen Zeitalters: Jede Generation hat ihren eigenen Blick auf Goethe. Seine anderthalbjährige Italienreise (1786-1788) befeuerte die kollektive Italien-Sehnsucht der Deutschen im 19. und 20. Jahrhundert. Auch politisch dient der Dichterfürst immer wieder als Gewährsmann: Als Deutschland 1919 und 1945 – das Land der Dichter und Denker war zum Land der Richter und Henker geworden – darniederlag, beriefen sich Politiker und Medien auf Goethe und die Werte der Weimarer Klassik. Als Bundespräsident Christian Wulff 2010 den umstrittenen Satz formulierte “Der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland”, berief er sich auf Goethe, der in seinem “West-östlichen Divan” geschrieben hatte: “Orient und Okzident sind nicht mehr zu trennen.”
Eine Debatte um das Selbstverständnis der Gesellschaft entzündete sich schon an Goethes Elternhaus am Frankfurter Großen Hirschgraben: Nach dem Zweiten Weltkrieg, in dem das Haus komplett zerstört wurde, gab es Debatten über einen originalgetreuen Wiederaufbau. Sollte das Haus nicht eher als Ruine und Mahnmal erhalten bleiben? Als Zeichen dafür, dass Krieg und Holocaust die Schwäche der bürgerlichen Werte vor Augen geführt hatten?
Aktuell sorgt eher das Goethe-Haus in Weimar für Diskussionen: Ab 2026 soll mit der auf 45 Millionen Euro veranschlagten Sanierung und Neugestaltung des Hauses am Frauenplan in Weimar begonnen werden, das Goethe ein halbes Jahrhundert lang bewohnt hat. Es ist zusammen mit dem angrenzenden Goethe-Nationalmuseum mit jährlich mehr als 100.000 Besuchern eines der wichtigsten Denkmäler der Literaturgeschichte in Deutschland. Gut 50.000 Gegenstände hatte der Dichter dort zusammengetragen – Möbel, Bücher und Werke der bildenden Künste, Mineralien und Münzen, Fossilien. Die Frage stellt sich: Wie kann man Goethe ins 21. Jahrhundert holen? Die Arbeiten sollen vor dem 22. März 2032 abgeschlossen sein. Denn dann jährt sich sein Todesdatum zum 200. Mal.