Derzeit machen Bücher Furore, die kritisieren, warum nach gut drei Jahrzehnten gemeinsamer Bundesrepublik noch immer eine Grenze in Köpfen und Seelen „Ossis“ von „Wessis“ trennt. Dazu passt der jüngste Elitenmonitor im Auftrag der Bundesregierung über die geringe Anzahl von Führungskräften mit ostdeutscher Biografie.
Immer wieder treffe ich auf Menschen, die das fast empört sagen. Vorwiegend sind das Menschen, die im Westen Deutschlands aufgewachsen sind. Sie können nicht verstehen, warum in den „neuen“ (!) Bundesländern so viele Menschen darauf bestehen, Ostdeutsche zu sein. Wieso so viele nicht einfach glücklich und dankbar sind, seitdem am 3. Oktober 1990 erfolgten „Beitritt zum Geltungsbereich des Grundgesetzes“ zur Bundesrepublik dazuzugehören. Und warum auch manche Jüngere, geboren in „Freiheit und Einheit“, ihre ostdeutsche Identität hochhalten. Eine einfache Antwort darauf gibt es nicht wie auch die Biografien der knapp 18 Millionen DDR-Bürger, die 1990 Bürger der Bundesrepublik wurden, und die ihrer Nachkommen nicht gleich sind.
Pfarrer sind Wendegewinner
Ich zum Beispiel gehöre zu den Wendegewinnlern. Zu DDR-Zeiten war klar, dass ich nach sieben Jahren Studium und Vikariat als Pastor weniger verdienen würde als das, was ich vorher als Facharbeiter für Nachrichtentechnik bekommen hatte. In der Bundesrepublik angekommen, stieg mein Gehalt peu à peu bis auf das eines Richters. Und die Institution Kirche war die einzige auf ostdeutschem Gebiet, die 1990 einfach weitermachen konnte, wenn auch unter dem Druck der westlichen Schwesternkirchen, sich ihnen anzugleichen.
Vielen anderen aber erging es anders. Darunter waren auch etliche, die 1989 auf die Straßen gegangen waren und die deutsche Einheit herbeigesehnt hatten. Tiefe Enttäuschungen waren das Ergebnis. Denn ihnen wurde nun klargemacht, dass ihre Kenntnisse und Fähigkeiten angeblich in der Marktwirtschaft nicht zu gebrauchen wären. Auch exzellente, politisch unbelastete Fachleute bekamen Westdeutsche vorgesetzt, die längst nicht immer dafür geeignet waren.
Kränkungen sitzen tief
Noch immer heißt es „neue Bundesländer“ Sicher, es gab auch viel Engagement aus der alten Bundesrepublik. Doch die erlittenen Kränkungen saßen tief und wirken bis heute nach. Zumal sich bald herausstellte, dass es auch nun weniger darauf ankommt, was Menschen können, sondern wie sie sich verkaufen. Und dass Opportunismus und Seilschaften auch im „freien Westen“ die Karriere fördern. Bis heute, im Jahr 33 der deutschen Einheit, so zeigte es gerade der Eliten-Monitor, den die Universitäten Leipzig und Jena sowie die Hochschule Görlitz/Zittau im Auftrag der Bundesregierung erstellt haben, sind Ostdeutsche in den Chefetagen stark unterrepräsentiert. Besonders krass zeigt sich das in den überregionalen Medien. Und so findet die Berichterstattung aus dem Osten Deutschlands, wenn sie denn vorkommt, meist als Expedition in ein exotisches Land statt.
“Die größte DDR der Welt”
Mit einer Selbstverständlichkeit wird immer noch von den „neuen Bundesländern“ geredet und geschrieben. Ebenso von „Deutschland“, auch wenn es nur um die alte Bundesrepublik zwischen 1949 und 1990 geht. Das andere Deutschland, immerhin „die größte DDR der Welt“, wie wir gern lästerten, und damit wir als ihre Einwohner zählen da nicht mit. Nein, die meisten Ostdeutschen wollen die DDR nicht zurückhaben. Was sie zurückhaben wollen, ist die Deutungshoheit über ihr Leben.
Viele hatten ein sehr ambivalentes Verhältnis zu ihrem Staat, dieser oft so kleingeistigen Diktatur von Ordnung und Sicherheit. Viele verabschiedeten sich Abend für Abend per TV aus der realsozialistischen Gegenwart Richtung Westen.
Aber wehe, wenn die Westverwandtschaft blöde Sprüche über die DDR losließ – dann wurde der ungeliebte Staat verteidigt. Und dann gab es ja auch noch das Jahr 1990, als nach dem Sturz der SED-Herrschaft aus dem ungeliebten Staat doch noch für eine kurze Zeit „unsere“ DDR wurde, die wir uns erkämpft hatten.
Immer noch lesenswert, um dem Phänomen „Ossi und Wessi“ auf die Spur zu kommen, ist das kleine Buch „Der Gefühlsstau“ von dem Hallenser Psychotherapeuten Hans-Joachim Maaz, das er in den frühen 90er Jahren und zum 20. Jahrestag der (Wieder-)Vereinigung überarbeitete. Er beschreibt dort Narzissmus als Kennzeichen dieser bundesdeutschen Gesellschaft. Nur dass er bei vielen Ostdeutschen, die sich anzupassen hatten ohne Erfolgserlebnisse, als gekränkter Narzissmus zu einer Trotzhaltung geführt habe. Zumal sich für die meisten Westdeutschen nicht viel mehr geändert habe als die Form des Ampelmännchens und ihr Narzissmus sich entweder in selbstverständlicher Ignoranz des Ostens oder im Auftreten als „Besser-Wessis“ äußere.
Beides als zwei Seiten einer Medaille
„Ossis“ sind von „Wessis“ gemacht Dieser Trotz, sich auf die ostdeutsche Identität zu berufen, die man doch einst ganz schnell loswerden wollte, erinnert an die vergleichbaren Reaktionen auf andere Marginalisierungserfahrungen: Auch Vertriebene und Flüchtlinge aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten hingen umso stärker an ihrer Herkunft, je weniger sie sich von den Einheimischen angenommen fühlten. Und aus der Bewegung für die Gleichstellung von Afroamerikanern in den USA, als sie nur bedingt Erfolg hatte, wuchs der stolze Ruf: „Schwarz ist schön!“ „Ossis“ sind von „Wessis“ gemacht, lautet passend dazu die Grundthese des zurzeit heiß umstrittenen Buches „Der Osten – eine westdeutsche Erfindung“ des Leipziger Literaturwissenschaftlers Dirk Oschmann (55). Der gebürtige Thüringer kritisiert darin, dass immer noch der Westen als Normalfall gilt und der Osten als Abweichung. Und selbst in „meiner“ Nordkirche, die doch als großes Experiment der Vereinigung von west- und ostdeutschen Landeskirchen mit viel gutem Willen und Einsatz gilt, begegnet mir manchmal ein Blick auf Mecklenburg und Pommern, der zwischen Mitleid und Hochmut schwankt.
Das Plattdeutsche als Gemeinsamkeit in der Nordkirche
Doch diese Nordkirche hat mich auch gelehrt: Dort, wo es eine andere starke Identität gibt, die über die Gräben hinüberreicht, die die innerdeutsche Grenze hinterlassen hat, verschwinden diese schneller als anderswo. Hier ist es eine gemeinsame norddeutsche, protestantische Identität, gut unterfüttert durch das Plattdeutsche, auch wenn es längst nicht mehr alle sprechen. Vielleicht liegt ja die Lösung darin, Unterschiede nicht einfach wegzuwischen, weil sie als politisch nicht korrekt gelten.
Gegenseitige Ressentiments gab und gibt es auch innerhalb Ost- und Westdeutschlands: Metropole gegen plattes Land, Bayern gegen Westfalen, Pommern gegen Sachsen und umgekehrt. Vielmehr lassen sich diese Unterschiede ja auch als Reichtum, als gegenseitige Ergänzung entdecken. Doch für eine solche „Bunte Republik Deutschland“, wie sie Udo Lindenberg besingt, müssen wir alle diesen Narzissmus, diese Selbstbezogenheit überwinden, in welcher Form sie auch vorkommt.