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Der garstige Graben

Die Aufspaltung der Gesellschaft vertieft sich. Vorbild, wie man mit Spannungen und Unterschieden umgeht, könnte der Umgang der Kirchen miteinander sein: die Versöhnte Verschiedenheit

Versöhnte Verschiedenheit – was ist das eigentlich? Diesen Begriff hört man momentan oft. Gerade im ökumenischen Gespräch zwischen evangelischer und katholischer Kirche. Da heißt es meist: Man sei noch nicht so weit, dass man alle Unterschiede, Lehr- und Meinungsverschiedenheiten ausräumen könne. Aber man habe schon viel erreicht.
Einer, der damit überhaupt nichts anfangen kann, ist Norbert Lammert. Kürzlich ist er, der scheidende Bundestagspräsident, den beiden großen Kirchen kräftig in die Parade gefahren. Ausgerechnet beim bundesweiten Ökumenischen Fest in Bochum hatte der Katholik Lammert die Formel Versöhnte Verschiedenheit als „versteckte Kapitulationserklärung“ abgekanzelt. Diese Worte kaschierten, dass die Kirchen noch immer nicht zueinander gefunden hätten, so Lammert. Wer „Versöhnte Verschiedenheit“ predige, behindere den Weg zur Einheit der Kirchen.
Interessanterweise hat sich nach dem Bundestagspräsidenten nun auch der Bundespräsident zum Thema geäußert, Frank-Walter Steinmeier. Der ist evangelischer Christ aus dem Lipperland und findet Versöhnte Verschiedenheit gut: Wie Katholisch und Evangelisch nach Jahrhunderten von Krieg und Feindschaft nun aufeinander zugegangen seien, das sei großartig, sagte Steinmeier in Rom, kurz vor einem Treffen mit dem Papst (Seite 4).
Der Weg der Kirchen sei geradezu ein Vorbild, so Steinmeier; auch für die Frage, wie die Nationalstaaten in der Europäischen Gemeinschaft künftig miteinander umgehen könnten.
Was hat man also von der Versöhnten Verschiedenheit zu halten? Vorbild oder halbherziger Versuch?
Was heißt eigentlich: versöhnt? Das klingt nach Bibel und Theologie. Das stimmt auch. Aber anders, als man vielleicht meint. Versöhnt – das hat nichts mit „Sohn“ zu tun. Sondern mit „Sühne“. Im 19. Jahrhundert ließ eine Lautverschiebung das ü zum ö werden. Und die Dinge wurden unklar.
Eigentlich geht es laut Bibel aber so: Die Sünde trennt den Menschen von Gott. Sie ist wie eine Kluft, ein Spalt zwischen Himmel und Erde – und auch zwischen den Menschen. Dieser Graben muss überbrückt werden. Und das heißt in der Sprache des christlichen Glaubens: versühnt werden. Über die Sünde, die Trennung, hinwegkommen.
Oft wird in diesen Tagen bemängelt: Uns fehlen die Visionen. Entwürfe, die eine Gesellschaft in die Zukunft tragen können.
Hier ist eine gewaltige Vision: Versöhnte Verschiedenheit.
Den Anderen respektieren –ohne das Eigene zu verschweigen. Aufeinander zugehen, ohne sich unter Druck zu setzen, alles in gleicher Weise sehen und verstehen, glauben und leben zu müssen. Gemeinsamkeiten suchen, erarbeiten und betonen, ohne die Unterschiede zu verschweigen. Miteinander leben, statt über den Anderen triumphieren zu müssen.
Eine Brücke über Gräben legen, damit man besser zueinander findet: Dann kann man auch auf zwei verschiedenen Seiten gut und friedlich miteinander leben.