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„Den Greueln Einhalt tun“

Der deutsche Konsul Walter Rößler warnte frühzeitig, dass das Osmanische Reich die christliche Minderheit vernichten wollte. Die Regierung in Berlin aber verschleierte die Verbrechen

„Ist keine Möglichkeit, den Greueln Einhalt zu tun?“ Die Telegramme des deutschen Konsuls von Aleppo, Walter Rößler (1871-1929), wurden im Verlauf des Jahres 1915 immer verzweifelter. Schrittweise kam er zu der Erkenntnis, dass es sich nicht um vereinzelte Ausschreitungen, sondern um ein gezieltes Ausrottungsprogramm der türkischen Behörden an den christlichen Armeniern handelte, wie Kai Seyffahrt in seinem Buch „Walter Rößler. Helfer der verfolgten Armenier“ schreibt.
Rößler, in Berlin geboren und von 1910 bis 1918 Konsul im syrischen Aleppo, setzte sich während des Ersten Weltkriegs so stark wie wohl kaum ein anderer deutscher Diplomat für die Armenier ein. „Alles läuft trotz gegenteiliger Versicherung der Hohen Pforte auf Vernichtung des armenischen Volkes hinaus“, warnte der Diplomat am 18. September 1915 hellsichtig in einem Schreiben an die Deutsche Botschaft in Konstantinopel. Rößler hoffte, mit Aufklärung und energischem Protest ließe sich dem Morden Einhalt gebieten. „Stelle gehorsamst anheim, dieser Politik entgegenzuwirken“, heißt es immer wieder in seinen Berichten. Vergeblich.
Mehr als 200 Berichte und Telegramme Rößlers berichten von dem Grauen. „In Besnije ist die ganze Bevölkerung von rund 1800 Frauen und Kindern und wenigen Männern ausgewiesen. Am Göksu, einem Nebenfluss des Euphrat, mussten sie sich auskleiden, wurden sämtlich niedergemacht und in den Fluss geworfen.“
Aleppo, heute im syrischen Bürgerkrieg zerstört, war vor hundert Jahren schon einmal Schauplatz unvorstellbarer Verbrechen. Als Eisenbahnknotenpunkt entwickelte sich die Stadt zu einem Drehkreuz des Völkermords. Hier teilten sich die Deportationsrouten in Richtung Palästina und in Richtung Euphrat. Von hier wurden selbst Greise, Frauen und Kinder unter Peitschenhieben in die mesopotamische Wüste getrieben, vorbei an Tausenden Leichen am Wegesrand.
Wer helfen wollte, wurde barsch zurückgewiesen. Rößlers Berichte nach Konstantinopel oder an das Auswärtige Amt in Berlin belegen den Verdacht, dass der Tod von bis zu 1,5 Millionen Armeniern, Aramäern und anderen christlichen Minderheiten gezielt geplant war. Der politisch wenig einflussreiche Idealist lief mit seinen Hilferufen immer wieder gegen Wände.
Ganz der pflichtbewusste patriotische preußisch-protestantische Beamte, kam er nach Einschätzung seines Biographen Seyffarth gar nicht auf die Idee, dass die Berliner Regierung die Verbrechen decken könnte und nicht bereit war, einzugreifen. Doch Berlin hatte allen Grund zur Verschleierung: Die Türken waren Verbündete des Reichs im Ersten Weltkrieg. Die Türken, die den Krieg nutzen wollten, einen ethnisch und religiös einheitlichen Staat zu schaffen, durften nicht verärgert werden.
Rößler beließ es allerdings nicht bei schriftlichen Eingaben. Unermüdlich arbeitete er an einem Netzwerk zur Rettung von Armeniern, das aus europäischen Missionaren, ausländischen Hilfsgesellschaften, ortsansässigen Armeniern oder auch deutschen Lehrern, Kaufleuten oder Ingenieuren der Bagdadbahn bestand. Zugleich versuchte er mit der Autorität eines Diplomaten, auf türkische Behörden einzuwirken und Not zu lindern.
Johannes Lepsius, evangelischer Theologe und Orientalist,  veröffentlichte 1919 einen Teil von Rößlers Akten. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts, als Armenier in der Türkei Opfer von Massakern wurden, hatte er begonnen, sich für die Minderheit einzusetzen und ein Armenier-Hilfswerk gegründet.
Walter Rößler starb 1929 in Berlin. Dem damaligen Deutschland war sein Eintreten für die Armenier keine Nachricht mehr wert.

Buchtipp: Kai Seyffahrt: Entscheidung in Aleppo. Walter Rößler (1871-1929) – Helfer der verfolgten Armenier. Donat Verlag, 352 Seiten, 16,80 Euro.