Fernsehansprachen gehören in der Bundesrepublik gewöhnlich nicht zum Repertoire von Kanzler und Bundespräsident. Die Ausnahme: die jährlichen Weihnachts- und Neujahrsansprachen. Ein Ritual. Die Wirkung bleibt begrenzt.
Zum Zusammenhalt mahnen, Wir-Gefühl vermitteln, Spaltung beklagen und um Vertrauen und Mitmenschlichkeit werben. Alle Jahre wieder predigen nicht nur Bischöfe und Pfarrer zum Weihnachtsfest und zum Jahreswechsel. Auch Kanzler und Bundespräsidenten suchen den Weg in die Wohnzimmer der “lieben Mitbürgerinnen und Mitbürger” oder der “lieben Landsleute”. Vor 75 Jahren erstmals Konrad Adenauer und Theodor Heuss.
Ein staatliches Ritual mit Predigt-Charakter, ein wenig Volkserziehung. Die vorab aufgezeichneten Ansprachen – fünf bis zehn Minuten zwischen Sissi-Filmen, Dinner for one und Festtagsschmaus – sind meist seriös, getragen, nachdenklich. Die Kanzler und Bundespräsidenten geben sich empathisch, verständnisvoll, ausgleichend. Zwischen fünf und elf Millionen Bundesbürger schalten ein – seit 1952 auch im TV.
Humor ist eher selten: In Erinnerung bleibt Angela Merkels erste Neujahrsansprache 2005 mit ihrem Hinweis auf die kommende Fußball-WM in Deutschland: “Natürlich drücken wir unserer Mannschaft die Daumen, und ich glaube, die Chancen sind gar nicht schlecht”, sagte sie spöttisch. “Die Frauenfußball-Nationalmannschaft ist ja schon Fußballweltmeister, und ich sehe keinen Grund, warum Männer nicht das Gleiche leisten können wie Frauen.”
Die Bilder ähneln sich: Die Bundespräsidenten stehen zur Weihnachtsansprache zwischen Bundesflagge und prächtigem Weihnachtsbaum. Die Kanzler am Silvesterabend hinter einem Tisch vor der Kulisse des Reichstags, an ihrer Seite die deutsche und die EU-Flagge. 2010 verzichtete Bundespräsident Christian Wulff bei seiner Weihnachtsansprache erstmals auf einen Schreibtisch. Er redete im Stehen, umringt von engagierten Bürgerinnen und Bürgern.
Die Inhalte sind nicht nur Wohlfühlprogramm: Rückblicke streifen Kriege, Regierungswechsel, Flutkatastrophe und Corona-Pandemie. Ausblicke kündigen Wahlen an oder rufen zur Überwindung von (Öl-, Klima- oder anderen) Krisen auf. “Was für ein Jahr liegt hinter uns!”, so begann Angela Merkel ihre Neujahrsansprache 2021 mit Blick auf die Corona-Pandemie. “Heute Nacht geht ein schweres Jahr zu Ende”, begann Olaf Scholz seine Rede zum Jahr 2023 mit Blick auf den Ukraine-Krieg.
Streitbare politische Botschaften sind selten. 1950 kündigte Kanzler Adenauer an, dass die Entnazifizierung abgeschlossen werde. Schon 1970 mahnte Bundespräsident Gustav Heinemann eine andere Debattenkultur an: “Verteufelung des Gegners, Beschuldigung Andersdenkender als Verräter bis hin zu Morddrohungen sind grobe Entartungen.”
Anfangs stand die Bewältigung des Krieges im Vordergrund: Adenauers erste Weihnachtsansprache 1949 erinnerte an Ausgebombte, Kriegsgefangene und Verschleppte und versuchte Hoffnung zu wecken. “Dies Weihnachtsfest können viele von uns zusammen mit ihrer Familie feiern, voll Dank dafür, dass unser Weg – wenn auch langsam – bergauf führt”, sagte er vor 75 Jahren. Ganz selbstverständlich ging die Rede des überzeugten Katholiken in eine Predigt über. “Wir wollen in diesen Tagen einmal die Stille pflegen und Einkehr bei uns selbst halten”, sagte er und erinnerte an die Botschaft der Engel im Weihnachtsevangelium: “Friede den Menschen, die eines guten Willens sind, ist eine Verheißung, an die wir glauben.”
Auch Bundespräsident Heuss erinnerte zum Jahreswechsel 1949/50 an den unabsehbaren “Katalog der deutschen Not und Nöte”: “Wollte ich ihn reihen, so würde es eine Reihe grauen Elendes.” Der Liberale forderte zugleich den mündigen Bürger; der Staat könne nur begrenzt helfen. “Das Schimpfen und Höhnen an der Bierbank ist nicht die rechte Begleitmusik. Wollt ihr wieder den Reichstag der 30er Jahre, wo alles so glatt ging? Es war der glatte Weg, der in den Abgrund führte.”
Vieles in den Ansprachen bleibt aber austauschbar. So austauschbar, dass die ARD an Silvester 1986 die Rede von Kanzler Helmut Kohl aus dem Vorjahr sendete. Eine der größten TV-Pannen, die angeblich auf eine versehentliche Vertauschung der Videobänder zurückzuführen war.
Nicht immer ist die Rollenverteilung – der Präsident für die Seelsorge, der Kanzler für die Politik – eindeutig: Bis 1969 war die Weihnachtsansprache das Vorrecht des Kanzlers, während der Bundespräsident zum neuen Jahr das Wort an die Bevölkerung richtete. Die Historikerin Gudrun Kruip vermutet, dass diese Regelung auf Heuss zurückgeht. Er habe sich für die Symbolpolitik der jungen Bundesrepublik zuständig gefühlt, sagt sie. Als überzeugtem Katholiken sei Adenauer eine Ansprache zu Weihnachten mehr entgegengekommen.
Bundeskanzler Willy Brandt und Bundespräsident Heinemann (beide SPD) brachen dann mit dieser Tradition. 1970 hielt zum ersten Mal ein Bundespräsident die Weihnachts- und ein Bundeskanzler die Neujahrsansprache. Der Grund ist nicht bekannt: Fest steht, dass Brandt 1969 in seiner einzigen Weihnachtsansprache klargemacht hat, dass er kein Mann für diesen Anlass sei. “Gefühlvolle Deklamationen sind nicht meine Sache”, sagte er. “Verantwortliches politisches Handeln zwingt zum nüchternen Denken.”