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Das Schwein des Anstoßes

Die Darstellung der „Judensau“ war seit dem Mittelalter eine Form der Demütigung und Verspottung des Judentums. Bis heute finden sich diese Statuen an kirchlichen und weltlichen Gebäuden. Wie damit umgehen?

Norbert Neetz

Von Joachim Heinz

Sie ist eine Wiege der Reformation: Von der Wittenberger Stadtkirche ging die Botschaft Martin Luthers und seiner Mitstreiter in die Welt, wie die evangelische Gemeinde in der sachsen-anhaltischen Lutherstadt nicht ohne Stolz auf ihrer Homepage festhält. Lucas Cranach der Ältere (1472-1553) schuf für das Gotteshaus einen weithin gerühmten und berühmten Altar. An der Außenmauer der Kirche wirft indes eine Steinmetzarbeit aus dem Mittelalter einen Schatten auf die Glorie vergangener Tage.

Bildmotiv gehört zu den übelsten Schmähungen

Auf dem Sandsteinrelief ist ein Rabbiner zu sehen, der den Ringelschwanz eines Schweins anhebt. Weitere Figuren suchen ganz offenbar nach den Zitzen des Tieres. Das Schwein gilt den Juden als unrein. Das Bildmotiv „Judensau“ gehört seit dem Mittelalter zu den übelsten Schmähungen des Judentums. Noch heute finden sich entsprechende Darstellungen an rund 30 evangelischen und katholischen Kirchen in Deutschland. Die Liste reicht vom 700 Jahre alten Chorgestühl des Kölner Doms über zwei Figuren am Martinsmünster im elsässischen Colmar bis hin zu einem Säulenkapitell im Kreuzgang des Doms in Brandenburg an der Havel.
In Wittenberg soll bis zum 21. Juni wöchentlich eine Mahnwache zur Entfernung der „Judensau“ an der Stadtkirche stattfinden. Ziel sei es, dass die antisemitische Schmäh­skulptur noch dieses Jahr entfernt und an einen musealen Ort zu Forschungs- und Bildungszwecken gebracht werde, erklärte das neu gegründete „Bündnis zur Abnahme der Judensau im Reformationsjahr 2017“ in Wittenberg. Bereits im vergangenen August hatte eine Online-Petition auf Initiative eines jüdischen Briten Gleiches gefordert.
Denkmalschützer und Wissenschaftler verfolgen die Debatte mit einer Portion Skepsis. Man müsse lernen, auch mit historisch belasteten Zeugnissen angemessen umzugehen, betont die Sprecherin der Deutschen Stiftung Denkmalschutz, Ursula Schirmer. Brauchtumsforscher Manfred Becker-Huberti ergänzt: „Ich finde es unhistorisch, historische Objekte von antisemitischen Darstellungen zu ,befreien‘.“
Ratsamer sei es, die entsprechenden Objekte im Zusammenhang zu belassen und sie zugleich eindeutig zu erklären. Letzten Endes ließen sich nur so antisemitische Vorstellungen bekämpfen. Eine „formale Entschuldigung für die Fehler unserer Ahnen ohne aktuelle Einstellungskorrekturen“ halte er für „Nonsens“, fügt Becker-Huberti hinzu.
Diese Haltung vertritt auch der Kirchenvorstand der evangelisch-lutherischen St. Marien-Gemeinde im lippischen Lemgo. In der gotischen Kirche findet sich die einzige Abbildung einer „Judensau“ im Bereich der lippischen und westfälischen Landeskirchen. In diesem Fall hält ein Jude – gekennzeichnet durch den spitzen „Judenhut“ – ein Schwein im Arm. Eine Tafel neben der Statue erläutert ausführlich die mittelalterliche Bildsprache und weist auf deren antijudaistischen Charakter hin. Ausdrücklich wird auf die Mitschuld am Antisemitismus und der Shoah hingewiesen, der sich die christlichen Kirchen zu stellen haben.
Ein Entfernen der Statue kommt für Pfarrer Matthias Altevogt nicht in Frage. „Darüber gabe es bei uns noch nie eine Diskussion“, sagt er. Die Geschichte der Judenfeindschaft müsse in der Kirche sichtbar bleiben, damit sich die Menschen heute damit auseinandersetzen könnten. „Die Gemeinde hat mit der erläuternden Tafel klar Stellung bezogen“, sagt Altevogt. Bei Kirchenführungen würde dies auch ausdrücklich thematisiert.
Noch beklemmender als die alten „Judensau“-Darstellungen ist ohnehin die Tatsache, dass die Schmähung bis heute im Vokabular von Neonazis präsent ist. In der frühen Neuzeit trug der Buchdruck zur Verbreitung des Bildes bei. Antijüdische Propagandisten griffen es im 19. Jahrhundert auf, in der Weimarer Republik wurden Politiker wie der 1922 ermordete Walther Rathenau als „Judensau“ beschimpft. Da konnten die Nationalsozialisten und ihr Hetzblatt „Der Stürmer“ aus dem Vollen schöpfen.
Dass „Judensäue“ schon im Mittelalter bevorzugt auf dem Gebiet des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation anzutreffen waren, hat nach Ansicht von Becker-Huberti naheliegende Gründe. „Von hier wurden maßgeblich Kreuzzüge organisiert, hier hatte die Theologie gewichtige ,Stammburgen‘, von denen aus der Antisemitismus theologisch begründet wurde.“ Mit fatalen Folgen: „Da er durch diese theologische Unterfütterung als offizielle Lehre erschien, hielten die einfachen Menschen ihn für gerechtfertigt.“
Unterhalb der Darstellung in Wittenberg erinnert ein Mahnmal seit 1988 Besucher an die unselige Tradition des Antisemitismus'. Für Denkmalschützerin Schirmer ein sinnvoller Weg. Oder, wie es Theologe Friedrich Schorlemmer im Auftrag der Stadtkirchengemeinde Wittenberg formulierte: „Geschichte lässt sich nicht einfach entsorgen. Sie gemahnt uns an Dunkles, auch bei dem großen Reformator Martin Luther und seinen Zeitgenossen.“ KNA/leg