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Das Land, in dem wir leben

Nordrhein-Westfalen hat Geburtstag. Das Land hat eine bewegte Geschichte. Armut, Hunger und Krieg gehören dazu, aber auch Friede und Wohlstand. Eine Würdigung – mit Fußball und Bier, Künstlern und Kirchenliedern

Das Land Nordrhein-Westfalen wird 70 Jahre alt. 1946 wurde die ehemalige preußische Provinz Westfalen und der Nordteil der Provinz Rheinland – damals unter britischer Besatzungsaufsicht – zum Land Nordrhein-Westfalen gefügt. Ein Jahr später kam Lippe dazu.

Was zeichnet dieses Land aus? Wenn Geschichte auch die Schichten meint, auf denen wir kulturell stehen und uns zu bewähren haben, dann führt uns der Blick weiter zurück, sogar in die Zeit Jesu: Das Hermannsdenkmal in Lippe und das Römermuseum in Haltern erinnern an die Varusschlacht im Jahr 9 n. Chr. Jesus war damals Kind.

Schöne Natur, stark im Bundesliga-Fußball

Wir können sehr verschieden auf unser Land blicken: Der Wirtschaftsraum Rhein-Ruhr ist der stärkste Wirtschaftsraum in Europa. Die Eifel und das Sauerland gehören zu den schönsten Naturregionen in Deutschland. Fußballinteressierte wissen es: In manchen Jahren kam die Hälfte aller Mannschaften der
1. Bundesliga aus NRW. Fördertürme stehen nicht nur im Ruhrgebiet, sondern auch in Ibbenbüren oder Bad Oeynhausen. Das Siegerland gehört zu den ältesten Eisenerzregionen Europas und in Wittgenstein kann man heute noch ein altes Schieferbergwerk besichtigen. Rheinischer Sauerbraten und westfälischer Schinken sind weit über die Landesgrenzen bekannt und begehrt, ebenso wie Aachener Printen und natürlich: Unser Bier. Kölsch und Alt im Rheinland, Pils in Westfalen.
Welches Bild bekämen wir von unserem Land, wenn es eine Landeskarte der Kirchenlieder gäbe? Joachim Neander aus Düsseldorf wäre zu nennen. Nach ihm trägt das Neandertal seinen Namen, in dem der weltweit bekannteste urzeitliche Knochenfund gemacht wurde. Sein Lied „Lobe den Herrn, den mächtigen König der Ehren“ stärkt Christen auf der ganzen Welt. Weiter nach Westen, in Mülheim an der Ruhr, hat Gerhard Tersteegen gewirkt. Seine Lieder sind zum Schwarzbrot des Glaubens geworden. „Gott ist gegenwärtig“ gehört dazu und „Ich bete an die Macht der Liebe“. Noch weiter westlich, in Unna, lebte Philipp Nicolai. „Königschoräle“ werden die beiden bekanntesten seiner Lieder genannt: „Wie schön leuchtet der Morgenstern“ und „Wachet auf, ruft uns die Stimme“. Lieder, die uns daran erinnern, dass die christliche Botschaft nicht nur Lebensweisheit ist, sondern eben vor allem Erlösungsnachricht. Das hat auch Friedrich von Bodelschwingh gewusst, der in Bielefeld-Bethel das Osterlied „Nun gehören unsere Herzen ganz dem Mann von Golgatha“ geschrieben hat.

Eine Landkarte der Kirchenlieder

Eine Landkarte der Kirchenlieder in Nordrhein-Westfalen ist auch eine Karte der Ökumene, weil diese Lieder längst in die Gesangbücher aller Konfessionen Einzug gehalten haben. Aber sie ist es auch, weil die Liederdichter selber verschiedenen Konfessionen angehören: Peter Strauch, der frühere Präses des Bundes freikirchlicher Gemeinden in Witten, hat Lieder geschaffen, die die Zeit überdauern werden.  „Herr, wir bitten: Komm und segne uns“ ist eines. Und Stefan Vesper aus Bonn vom Zentralkomitee der Katholiken verdanken wir den Kanon „Jeder Teil dieser Erde ist meinem Volk heilig“.
Zwei überlieferte Traditionen führen nach Nordrhein-Westfalen, die beide der katholischen Kirche entstammen. In vielen Gegenden werden sie längst ökumenisch begangen: Das Martinslied „Sankt Martin ritt durch Schnee und Wind“ erfreut Tausende Kinder jedes Jahr Anfang November bei den Martinszügen. Am Niederrhein soll es entstanden sein. Während die Kinder dieses Lied mit warmem Kakao und Weckmännern verbinden, mit Martinsfeuer und Martinspferd, machen sie sich oftmals sechs Wochen später auf und sammeln im Auftrag des katholischen Hilfswerkes Adveniat aus Aachen als die „Heiligen drei Könige“ Geld für arme Kinder in der Welt. So werden aus selbst Beschenkten Schenkende – dieser Wechsel ist Einübung ins Christentum von Jugend an, ist lebendige Volkskirche auch gegen den Zeitgeist.

Ökumene ist selbstverständlich

Aber nicht nur Kirchenmusik gehört zu unserem Land, der Bogen spannt sich weit: Clara und Robert Schumann in Düsseldorf sind zu nennen und Ludwig van Beethoven in Bonn, aus dessen „Neunter“ die Europahymne erstrahlt. BAP in Köln und die Toten Hosen in Düsseldorf haben in der Popularmusik – wenn man so will, ebenfalls Hymnen hinterlassen. Aus der Malerei ist Peter Paul Rubens zu nennen, der in Siegen geborene begnadete Künstler. Seine „Kreuzabnahme Christi“ ist mehr als Malerei. Gerhard Richter hat im Kölner Dom ein Fenster geschaffen, das zugleich ein Fenster zur modernen Kunst darstellt. Da ist Joseph Beuys und August Macke aus Meschede. In der Literatur sind natürlich Annette von Droste-Hülshoff und Else Lasker Schüler zu nennen; auch die beiden rheinischen Heinriche: Heine und Böll, die je auf ihre Weise für Humanismus stehen und gegen Willkür.
Der „Westfälische Friede“ ist Meilenstein auch der Religionsgespräche unserer Zeit. Die „Barmer Erklärung“ ein Bekenntnis nicht nur zur Freiheit, sondern auch zum Grund allen kirchlichen Tuns: zu Jesus Christus. Zwei Bibelübersetzungen sind aus NRW in die Welt gegangen: Die Elberfelder und die Berleburger Bibel. Lesen wir genug darin?

Zeitzeugen der jüngeren Geschichte

Martin Niemöller, der in Lippstadt geborene Pfarrer, hat als Zeuge des 20. Jahrhunderts Kaiserreich, Hitlerdiktatur und die Bonner Demokratie erlebt und geprägt. Als „Hitlers persönlicher Gefangener“ war er acht Jahre im Konzentrationslager. Kurz vor der Gründung NRWs hat die Jüdische Allgemeine Zeitung von Düsseldorf aus ihre Arbeit aufgenommen. Welch ein Zeichen nach Jahren der Verfolgung und des Todes! In Detmold fand in diesem Jahr wohl einer der letzten Prozesse gegen einen KZ-Wachmann statt. Opfer und Täter mögen sterben, die Verantwortung darf es nicht.

Ohne innere Heimat kann man nicht gut reisen

Unser Land hat eine bewegte Geschichte, zu der Armut, Hunger und Krieg ebenso gehören wie Friede und Wohlstand. Johannes Rau, der langjährige Ministerpräsident, hat einen Text hinterlassen, der auch an einem Jubiläum Grund zum Innehalten gibt: „Wenn Menschen meiner Generation mich fragen, wie ich die manchmal verzweifelten Tage und Wochen meines Lebens gemeistert habe, aber auch, was die wunderbaren Erlebnisse und Erfahrungen waren und sind, dann sage ich ihnen dies: Sagt euren Kindern, dass euer Leben verdankt ist dem Lebenswillen Gottes. Sagt ihnen, dass euer Mut geliehen war von der Zuversicht Gottes. Sagt ihnen, dass eure Verzweiflung geborgen war in der Gegenwart des Schöpfers. Sagt ihnen, dass wir auf den Schultern unserer Mütter und Väter stehen. Sagt ihnen, dass ohne die Kenntnis unserer Geschichte und Tradition eine menschliche Zukunft nicht gebaut werden kann. Sagt ihnen, dass wir ohne innere Heimat keine Reisen unternehmen können. Und sagt ihnen zu guter Letzt, dass die stete Bereitschaft zum Aufbruch die einzige Form ist, die unsere Existenz zwischen dem Leben hier und dem Leben dort wirklich ernst nimmt.“
In diesem Sinne ist Nordrhein-Westfalen unsere Heimat – auf Zeit.