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Das historische Gedächtnis zu Deutschlands Kriegen und Armeen

Koloniale Eroberungskriege, die Verbrechen der Wehrmacht in der Ukraine, der Bericht von Militärseelsorgern: Das Deutsche Militärarchiv dokumentiert die Militär- und Sicherheitspolitik – und wird immer digitaler.

In roter Schrift ist das Vorrücken des Feindes akkurat verzeichnet. Blaue Linien und Pfeile kennzeichnen die eigenen Truppenverbände. Die rund zwei mal eineinhalb Meter große Karte zeigt im Januar 1945 die letzten Rückzugsgefechte der deutschen Wehrmacht in Norditalien.

Im Mai vor genau 80 Jahren bedeutete die Kapitulation Deutschlands das Ende des Zweiten Weltkriegs. Das Deutsche Militärarchiv veröffentlicht zum Jahrestag zahlreiche Informationen zu dem historischen Datum. Künftig sollen Nutzer über einen digitalen Archivlesesaal leichter den Zugang zu historischen Originaldokumenten erhalten.

In der Fotowerkstatt des Archivs prüft Digitalisierungschefin Katharina Bors, ob die mit Unterdruck an die Wand angesaugte Militärkarte korrekt ausgeleuchtet ist, dann kann die Digitalisierung per Hochleistungskamera starten. Acht Gigabyte groß wird die Bilddatei am Ende sein und jedes kleinste Detail des Originals erfasst haben. Nach Verschlagwortung und Beschreibung ist das historische Kartendokument dann Teil des digitalen Archivs.

In den Hallen des Militärarchivs am Stadtrand von Freiburg lagern auf einer Fläche von 5 Fußballfeldern mehr als 50 Regalkilometer mit Akten, Fotografien und Karten, die das militärische Planen und Handeln des deutschen Staates dokumentieren und für die Zukunft sichern. Die Überlieferung reicht bis ins Kaiserreich zurück, umfasst den deutschen Kolonialismus, den Ersten Weltkrieg, die Weimarer Republik und NS-Zeit, aber auch die DDR-Volksarmee. Der inzwischen größte Teil der Bestände sind die Dokumente aus Bundeswehr, Verteidigungsministerium, Geheimdiensten und weiterer staatlicher Behörden der Bundesrepublik.

Wohl kaum ein Staat weltweit unternimmt so großen Aufwand, um das Handeln des Staates, der Bundesbehörden und auch der Bundeswehr so sorgfältig zu archivieren. Militärarchiv-Direktor Michael Steidel verweist trocken auf das geltende Bundesarchivgesetz: “Alle Unterlagen, die nicht mehr benötigt werden, müssen dem Bundesarchiv angeboten werden.”

Noch immer sind es vor allem Privatpersonen, die sich an das Archiv wenden, um mehr über das Leben und Sterben von Familienmitgliedern im Zweiten Weltkrieg zu erfahren. In Freiburg sind beispielsweise Informationen zu Millionen Wehrmachtssoldaten archiviert – und damit auch Millionen Todesmeldungen.

“Neben den privaten Suchanfragen gehören die Unterstützung von wissenschaftlicher Forschung, publizistischen Recherchen, von Anfragen aus der historischen Bildungsarbeit und zu einem kleinen Anteil amtliche Anfragen zu unseren Aufgaben”, sagt Archiv-Referatsleiter Andreas Kunz.

Derzeit läuft etwa ein großes Forschungsprojekt zum Bundeswehreinsatz in Afghanistan. Das Archiv selbst will zum Gründungsdatum 12. November eine Online-Seite zu 70 Jahren Bundeswehr freischalten.

Schon jetzt bietet das Archiv zahlreiche, entlang wichtiger historischer Ereignisse aufgearbeitete Infoseiten an, die digitalisierte Originaldokumente in den historischen Kontext stellen und erläutern.

Abrufbar sind beispielsweise zum jetzt anstehenden 80. Jahrestag auch die Kapitulationsurkunde, die am 8. Mai 1945 den Zweiten Weltkrieg beendete. Der Entwurf des Dokuments beginnt mit den Sätzen: “Wir, die Unterzeichnenden, handelnd in Vollmacht fuer und im Namen des Oberkommandos der deutschen Wehrmacht, uebergeben hiermit bedingungslos und zur gleichen Zeit dem Obersten Befehlshaber der Alliierten Expeditions Streitkraefte und dem Oberkommando der roten Armee alle zum gegenwaertigen Zeitpunkt unter deutschem Befehl stehenden oder von Deutschland beherrschten Streikraefte auf dem Land auf der See und in der Luft.”

Nur wenige Klicks entfernt, und im Original in den Freiburger Archivregalen gesichert, zeigen Dokumente die Verbrechen von Wehrmacht und SS. Etwa beim Feldzug gegen Russland und bei der Ermordung Zehntausender Juden in der heutigen Ukraine und in den baltischen Staaten. Der Groscurth-Bericht belegt beispielsweise, wie die SS im August 1941 in Bila Zerkwa bei Kiew die gesamte jüdische Bevölkerung auslöschte – darunter 90 Babies und Kleinkinder.

Die frühen Wiederbewaffungsplanungen der jungen Bundesrepublik dokumentiert die Himmeroder Denkschrift: Im Eifelkloster Himmerod traf sich 1950 ein kleiner Kreis früherer Wehrmachtsoffiziere, um die künftigen militärischen Grundlagen Deutschlands zu skizzieren.

Auch zahlreiche Unterlagen zu den Bundeswehr-Auslandseinsätzen sind eingelagert. So reflektiert der evangelische Militärpfarrer Peter Michaelis 1993 den Bundeswehreinsatz in Phnom Penh im Rahmen des UN-Friedenseinsatzes in Kambodscha. Damals starb erstmals ein Bundeswehrsoldat im Ausland.

Alle diese Dokumente können digital recherchiert und abgerufen werden. Ziel ist ein digitaler Lesesaal, der die Gesamtbestände unabhängig vom Ort der physischen Aufbewahrung unabhängig erschließt. Teil der Strategie ist es auch, mehrere der aktuell 23 Standorte des Bundesarchivs zu schließen. Dazu zählt auch das Militärarchiv in Freiburg. 2038 sollen die Bestände vor allem nach Berlin und Koblenz umziehen. “Die Zukunft wird und muss digital sein”, sagt Archivdirektor Steidel.

Aber Digitalisierung ist aufwändig, die dafür nötigen Hochleistungsscanner und Kameras enorm teuer. Die gigantischen Datenmengen müssen sicher abgelegt werden. Jedes digitalisierte Dokument des Bundesarchivs wird dabei auf jeweils zwei Medien – vor allem auf Festplatten und Speicherbändern – gesichert und an zwei verschiedenen Speicherorten – Berlin und Koblenz – hinterlegt.

“Auch diese Speichertechnik ist teuer. Und natürlich müssen wir sicherstellen, dass alle Daten immer kompatibel mit den neuen Betriebssystemen bleiben”, sagt Steidel. Zuletzt lag der Jahresetat des Bundesarchivs bei 190 Millionen Euro.

Letztlich ungelöst ist auch noch die Frage, wie die digitalen Daten zukunftssicher gespeichert werden können. “Auch dazu stehen wir im Austausch mit internationalen Archivkollegen, die vor den gleichen Fragen stehen”, sagt Referatsleiter Kunz.