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„Das Erreichte beschützen“

Fritz Stern wurde aus seiner Heimat vertrieben. Dennoch hat sich der amerikanische Historiker deutsch-jüdischer Herkunft sein Leben lang für die Verständigung mit Deutschland eingesetzt

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BERLIN/NEW YORK – Sein tiefes Interesse gilt dem Land, das ihn vertrieben hat. „Fünf Deutschland und ein Leben“ hat Fritz Stern seine 2007 veröffentlichten Erinnerungen überschrieben. Und seinen Zwiespalt mit dem Satz „Ich verließ Deutschland mit Hass und Heine“ beschrieben.
Nicht nur als Historiker hat sich der US-Bürger jüdisch-deutscher Herkunft ein Leben lang für Verständigung mit Deutschland eingesetzt. Auch als aktiver Berater amerikanischer und europäischer Politiker baute er Brücken und trug damit dazu bei, dass die Wiedervereinigung Deutschlands 1990 möglich wurde. Am 2. Februar feierte  der gebürtige Breslauer seinen 90. Geburtstag.

Vor 90 Jahren in Breslau geboren

Stern wurde in eine großbürgerliche jüdische Arztfamilie hineingeboren; seine Vorfahren waren zum Protestantismus übergetreten. Die deutsch-jüdische Bildungswelt und ihr furchtbares Ende im Nationalsozialismus wurden zu einem wichtigen Thema seiner Arbeit. Dass der Chemiker Fritz Haber sein Patenonkel war, verknüpfte ebenfalls Leben und historisches Interesse von Stern: Haber entwickelte im Ersten Weltkrieg das Giftgas. Der Mann, der den Sieg Deutschlands im Ersten Weltkrieg sichern wollte, war zugleich mit dem Pazifisten Einstein befreundet. Beide mussten nach 1933 erleben, dass ihr Land sie zur Emigration zwang.
Fritz Stern selbst floh als Zwölfjähriger 1938 mit seinen Eltern aus Breslau. In seinen Erinnerungen berichtet er von Sommerausflügen 1935, bei denen jedes Dorf in der Umgebung von Breslau eine Tafel mit einem antisemitischen Spruch aufgestellt hatte. Der Junge machte die erschütternde Erfahrung, dass „alles politisch“ war, dass das Unglück von Völkern und Familien vom Willen eines Tyrannen und seiner Komplizen abhing.
In den USA studierte Stern an der Columbia University in New York City, jener Hochschule, an der er 1963 ordentlicher Professor wurde und es – mit kleinen Unterbrechungen – bis zu seiner Emeritierung 1997 blieb. Als Forschungsschwerpunkte entwickelte er die Geschichte der Geschichtsschreibung sowie die kulturelle und politische Geschichte des modernen Europa, insbesondere Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert. Sein Heimatland ließ ihn nicht los, obwohl er nie wieder ganz zurückkehrte.

Aufstieg der Nazis war „kein Betriebsunfall“

Anders als viele Historiker, die den Aufstieg der Nazis als eine Art Betriebsunfall werteten und den Untergang der Weimarer Republik einem Zusammenspiel der Extreme anlasteten, sah Stern die Hauptursache der deutschen Katastrophe im Versagen der deutschen Eliten. Das wirtschaftlich starke, geistig bewegliche und wissenschaftlich führende Deutsche Reich habe um die Wende zum 20. Jahrhundert die Chance zu einer liberalen, fortschrittlichen Entwicklung gehabt. Dem standen ein rückständiges politisches System und antimodernes Denken der Eliten entgegen.
In seinem ersten, 1961 erschienenen Buch „Kulturpessimismus als politische Gefahr“ beschrieb Stern, wie sich im Deutschland des frühen 20. Jahrhunderts eine nationalistische und totalitäre Ideologie und Kulturkritik aufbaute, die die Errungenschaften der Moderne ablehnte. In seiner 1977 erschienenen Doppelbiographie über Bismarck und dessen jüdischen Bankier Gerson Bleichröder („Gold und Eisen") beschrieb er, dass Juden in Deutschland großen Einfluss erringen, aber nie aus dem Schatten des Antijudaismus heraustreten konnten.
„Verspielte Größe“ lautete denn auch der Titel einer Aufsatzsammlung von Stern. Von daher sprach der Historiker mit Blick auf die in den Westen eingebundene Bundesrepublik auch gerne von der „zweiten Chance“. 1987 hielt er als erster Nichtdeutscher im Bonner Bundestag die Rede zum Gedenken an den Aufstand des 17. Juni in der DDR, drei Jahre später überzeugte er Großbritanniens Premierministerin Margaret Thatcher von der Friedfertigkeit der Deutschen.

Sorge über Desinteresse an der Politik

Für sein Engagement erhielt Fritz Stern eine der angesehendsten Auszeichnungen, die in Deutschland verliehen werden: den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.
1989 sei das schönste und beste Jahr eines schlimmen Jahrhunderts gewesen, sagte der Historiker kürzlich in einem Interview mit dem Berliner „Tagesspiegel“. Besorgt zeigte sich Stern über ein wachsendes Desinteresse der Menschen in den westlichen Staaten an der Politik. Vielen sei nicht mehr bewusst, „was historisch und politisch alles erreicht wurde und dass man das Erreichte beschützen muss“.

Buchtipps: Fritz Stern: Fünf Deutschland und ein Leben. Erinnerungen. Übersetzt von Friedrich Griese. Beck Verlag, 675 Seiten, Leinen 29,90 Euro; dtv Taschenbücher Band 34561, 688 Seiten, kartoniert 15,90 Euro. Zuletzt erschienen ist von Fritz Stern der Band „Zuhause in der Ferne. Historische Essays“. Beck Verlag, 222 Seiten, 19,95 Euro.