Mehr als 80 Bürgerrechtler und DDR-Oppositionelle veröffentlichen „Erklärung zu Chemnitz“. Sie protestieren gegen den Versuch von Rechtspopulisten, das Erbe der Friedlichen Revolution von 1989 zu missbrauchen
Von Sibylle Sterzik
Mehr als 80 Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtler sowie ehemalige DDR-Oppositionelle haben sich mit einer „Gemeinsamen Erklärung zu Chemnitz“ an die Öffentlichkeit gewandt. Darin protestieren sie gegen den Versuch populistischer Gruppierungen, das Erbe der Friedlichen Revolution von 1989 für sich zu vereinnahmen. Anlass waren der Mord an dem Chemnitzer Daniel H. und die darauffolgenden Ereignisse in der sächsischen Stadt.
Die DDR-Bürgerrechtler kritisieren diejenigen, „die solche Straf – taten instrumentalisieren für menschenverachtende oder demokratiefeindliche Propaganda“. Davon nehmen sie „die große Mehrheit friedlich trauernder und teilweise zu Recht über die Versäumnisse der Politik verärgerten sächsischen Bürgerinnen und Bürger“ explizit aus.
Die „Erklärung zu Chemnitz“ mit dem Titel „Chemnitz ist gleich nebenan“ stellt fest, dass sich inzwischen nicht wenige Pegida- oder AfD-Sympathisanten auf die Friedliche Revolution von 1989 und auf die am 11. September 2010 verstorbene DDR-Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley beziehen. In der „Erklärung“ heißt es dazu: „Wegen ihres Einsatzes für Frieden, Freiheit und Menschenwürde wurde Bärbel Bohley 1983 und 1988 ins Gefängnis geworfen. Den von ihr nach dem Mauerfall gesprochenen Satz , Wir wollten Gerechtigkeit und bekamen den Rechtsstaat‘ verstehen wir als Appell für mehr Gerechtigkeit für die Opfer der SED-Diktatur, für politisch Verfolgte und Benachteiligte in Ostdeutschland“. Die „Erklärung“ der Bürgerrechtler appelliert an alle, die Kräfte der gewaltfreien Zivilgesellschaft zu stärken. Nur das schaffe die Voraussetzungen für eine zukunftsfähige Entwicklung in Deutschland.
Pfarrer Andreas Bertram aus Königshain in der Schlesischen Oberlausitz hat die Erklärung unterschrieben. Wie andere ist er in der DDR für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit auf die Straße gegangen. Bereits 1987 gehörte er als Student zum „Arbeitskreis Solidarische Kirche“, einer innerkirchlichen Oppositionsbewegung, die mit anderen Gruppen Friedensgebete in der Leipziger Nikolaikirche gestaltete. Später gründete er in Leipzig die Sozi al – demokratische Partei mit. Dass der Slogan „Wir sind das Volk“ jetzt etwa bei Pegida-Demonstrationen in Dresden von Rechtspopulisten missbraucht wird, kann für ihn nicht unwidersprochen bleiben. „Das Erbe der Friedlichen Revolution gehört nicht den Rechtsradikalen“, sagt er.
Bärbel Bohley war einst seine Chefin im 1996 von ihr gegründeten „Bürgerbüro – Verein zur Aufarbeitung von Folgeschäden der SED-Diktatur“ mit Sitz in Berlin. Von 1999 bis 2002 arbeitete Bertram dort als hauptamtlicher Berater für Rehabi – litierungsfragen. Heute ist er stellvertretender Vorsitzender des Bürgerbüro e.V., in dem auch Rainer Eppelmann, Freya Klier und Hildigund Neubert (Vorsitzende) mitarbeiten.
Wenn rechtsextreme Gruppen Bohleys Satz von der Gerechtigkeit und dem Rechtsstaat für ihre Zwecke missbrauchen, suggerierten sie da – mit, „wir würden heute in einem Unrechtsstaat leben wie in der DDR“. Dagegen verwahrt er sich. „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer Rechtsstaat, der verteidigt werden muss.“ Ebenso wenig dürfe der Mord an dem 35-Jährigen in Chemnitz, den er verurteilt, instrumentalisiert werden, so Bertram.
Die Erklärung mitverfasst hat Stephan Bickhardt, Polizeipfarrer in Leipzig und Westsachsen. Bickhardt, früher Pfarrer in Eberswalde und Mitbegründer von „Demokratie Jetzt“ in der DDR, war auch Studentenpfarrer in Leipzig. Eines der Gemeindeglieder war der Student Martin Kohlmann, heute Chef der rechtspopulistischen Wählervereinigung „Pro Chemnitz“. Auch Bickhardt war erschrocken, dass „immer häufiger Bohleys Satz von den Rechtspopulisten benutzt wird“, um den deutschen Staat zu diffamieren. Unter anderem hatte ihn Martin Kohlmann auf seine Internetseite gestellt. Bohley habe mehr Gerechtigkeit für die Opfer des SED-Regimes einfordern wollen, die sich ungerecht behandelt fühlten. „Der Begriff Gerechtigkeit wird genauso missbraucht wie der Montag“, sagt Bickhardt und spielt auf die Montagsdemonstrationen in der DDR-Zeit an, die zum Sturz des Regimes 1989 führten.
Die Erklärung von Chemnitz sei für ihn „die späte, vielleicht zu späte Aufforderung an den 1989er Kreis, dem zu widersprechen, dass Bärbel Bohleys Satz uminterpretiert wird“. Einen breiten Konsens suchten Verfasser und Unterzeichner der Erklärung, um dem Rechtspopulismus Einhalt zu gebieten. Sie sei auch eine Aufforderung an Staat und Staatsanwaltschaft, couragierter vorzugehen, um Straftaten zu ahnden. „In einem gewaltfreien Staat sind Konflikte, etwa um die Aufnahme von Geflüchteten, auf dem Weg des Dialogs zu klären.“ Dafür fehle es an Gesprächsmöglichkeiten, so Bickhardt.
Was erwartet er von der Kirche? „Nicht zu viel“, sagt er nach kurzem Nachdenken. „Nach der kleiner gewordenen Kirche wird immer gerufen in solchen Stunden. Es ist wichtig, dass sie Friedensgebete anbietet.“ In Predigten müsse sie klar die Positionen des Evangeliums vertreten und ihrer Verantwortung in der Nachfolge des Theologen und Widerstandskämpfers Dietrich Bonhoeffer gerecht werden. „Die Kirche muss sich trauen, zu Gesprächen aufzurufen, sie selbst anzubieten.“ Sie habe die Räume und Gruppen, Gesprächskreise, Chöre oder Bibelkreise. Das wurde in Chemnitz getan. Während Ministerpräsident Michael Kretschmer nach der Hetzjagd mit aufgebrachten Bürgerinnen und Bürgern sprach, öffneten Kirchen ihre Türen. Am vergangenen Wochenende auch in Köthen.