Artikel teilen:

Bundestagswahl: Flüchtlingsbeauftragte in SH warnt vor “Fake News”

Die Landesflüchtlingsbeauftragte in Schleswig-Holstein, Doris Kratz-Hinrichsen, erhofft sich ein breites Meinungsbild bei der Bundestagswahl am 23. Februar. Warum niemand vor Fake News gefeit ist, wie die Integration von Flüchtlingen gelingen kann und warum die Gesundheitsversorgung dabei mehr in den Fokus rücken muss, erklärte die 53-Jährige im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd).

epd: Frau Kratz-Hinrichsen, Sie sind seit einem Jahr Landesflüchtlingsbeauftrage von Schleswig-Holstein. Bereuen Sie den Wechsel von der Diakonie in den Staatsdienst?

Doris Kratz-Hinrichsen: Nein. Bei der Diakonie habe ich gern gearbeitet und zehn Fachbereiche geleitet. Jetzt kann ich mich auf den Bereich Migration, Asyl, Integration fokussieren.

epd: Wie war der Start für Sie und Ihr sechsköpfiges Team?

Kratz-Hinrichsen: Gut, wir konnten in unserem ersten Jahr viel bewegen. Wir haben uns mit den zuständigen Ministerien, dem Landesamt für Zuwanderung und Flüchtlinge, mit Kreisen, Kommunen, zivilgesellschaftlichen Akteuren, Ehrenamtlichen und dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ausgetauscht. Der Integrationsbereich ist sehr umfangreich und das Migrationsrecht ist sehr komplex und dynamisch, dazu klären wir auf bei Tagungen, Fortbildungen und mit Handreichungen. Ein Schwerpunkt war auch die Unterbringung von Geflüchteten.

epd: Wie beurteilen Sie die Unterkünfte für Geflüchtete in Schleswig-Holstein?

Kratz-Hinrichsen: Die Landesunterkünfte sind gut aufgestellt. In den Kommunen ist es schwierig, adäquaten Wohnraum für Flüchtlinge zu finden. Bundesweit gibt es zu wenig bezahlbare Wohnungen. Das Problem der adäquaten Unterbringung von Geflüchteten wird uns noch viele Jahre beschäftigen. In Schleswig-Holstein hat die Regierung gute Weichen in Richtung Erhaltung und Schaffung von Unterkünften gestellt, etwa indem sie die Standards für sozialen Wohnraum gesenkt hat.

epd: Migration ist ja gerade das zentrale Thema im Bundestagswahlkampf.

Kratz-Hinrichsen: Das stimmt. Deshalb rufen wir alle Wählerinnen und Wähler auf, mit und ohne Migrationshintergrund, ihre Stimme abzugeben und sich vorher die Parteiprogramme anzuschauen. Damit das Wahlergebnis am Ende ein breites Meinungsbild widerspiegelt…

epd: …und die AfD nicht zu viele Stimmen bekommt, meinen Sie.

Kratz-Hinrichsen: Ja. Ich hoffe, dass die demokratischen Kräfte zusammenbleiben und an guten Lösungen arbeiten. Wir haben einen Rechtsruck im politischen Diskurs, der sich auch in der Bevölkerung widerspiegelt. Die AfD und auch ausländische Kräfte versuchen, die Gesellschaft zu spalten. Davor sind wir alle nicht gefeit, wenn wir Nachrichten sehen oder uns im Social-Media-Bereich bewegen. Auch durch Künstliche Intelligenz wird es immer schwieriger, zwischen echten und fiktiven Nachrichten zu unterscheiden. Da hilft nur guter Journalismus und dass wir uns aus unserer Bubble auch mal rausbewegen.

epd: Was sagen Sie Menschen, die Angst davor haben, dass wir die Integration nicht schaffen?

Kratz-Hinrichsen: Es ist wichtig, dass wir den Fokus auf unser Land legen. Gleichzeitig müssen wir wissen, dass wir weltweit die höchsten Flüchtlingszahlen haben, die es je gab. Viele Menschen müssen ihre Heimat verlassen, aus unterschiedlichsten Gründen. Wir müssen die besten Lösungen finden, immer in Abwägung zu dem, was im Hinblick auf Wirtschaftskraft und Infrastruktur und der humanitären Verantwortung leistbar ist.

epd: Auffällig ist gerade in der jüngsten Vergangenheit die Häufung von Verbrechen von Tätern mit Migrationshintergrund. Aschaffenburg, Brokstedt, Magdeburg…

Kratz-Hinrichsen: … das sind Verbrechen, die nicht hinzunehmen sind.

epd: Und sie befeuern den Wahlkampf. Wie erklären Sie den Wählern diese Vorfälle?

Kratz-Hinrichsen: Wir haben verschiedene Zuständigkeiten auf Bundes- und Landesebene. Und häufig wurden die Täter in mehreren Bundesländern auffällig. Nach Brokstedt war unstrittig, dass es einen besseren Datenaustausch zwischen den Ländern und Institutionen geben muss. Jeder muss seine Erkenntnisse in eine gemeinsame Datenbank einpflegen, und das muss noch viel stärker als bisher passieren. Diese Verbrechen müssen zu politischem Handeln führen. Das Sicherheitsgefühl der Menschen in unserem Land ist stark beeinträchtigt in diesen Zeiten. Aber man muss auch besonnen und in Ruhe handeln.

epd: Wäre eine Zentralisierung der Flüchtlingspolitik im Bund nicht effektiver?

Kratz-Hinrichsen: Ich komme von der Basis der Migrations-, Integrations- und Flüchtlingsarbeit und kenne das System. Mein Ziel ist es, alle Akteure in den Austausch zu bringen. Um für den einzelnen Geflüchteten was zu erreichen, braucht es den Schulterschluss aller. Eine landesweite oder bundesweite Zuständigkeitsbündelung in einigen Bereichen könnte von Vorteil sein. Dafür sind aber viele gesetzliche Veränderungen etc. notwendig, das geht nicht von heute auf morgen.

epd: Bei den Tätern dieser Verbrechen handelte es sich oft um psychisch kranke Menschen. Therapieplätze sind aber rar.

Kratz-Hinrichsen: Ja, das stimmt. Wir gehen davon aus, dass 40 Prozent der Geflüchteten eine traumatisierende Erfahrung hatten. Die lange Verweildauer in den Gemeinschaftsunterkünften spielt hierbei auch eine Rolle. Da leben zum Teil Menschen sehr lange auf engstem Raum mit vielen anderen geflüchteten Menschen, das ist kein gesundes Umfeld. Hinzu kommt: Geflüchtete haben in Deutschland in den ersten 36 Monaten nur Anspruch auf eine medizinische Grundversorgung. Von Psychotherapie können wir da nicht sprechen. Und ja, wir haben in der psychosozialen Versorgung einen Arbeitskräftemangel. Gesundheitliche Versorgung müssen wir unbedingt in den Blick nehmen. Auch vor dem Hintergrund, dass die öffentlichen Kassen zunehmend unter Druck geraten.

epd: Die Zahl der Asylbewerber ist aber zurückgegangen.

Kratz-Hinrichsen: 2024 haben 6.651 Asylbewerber in Schleswig-Holstein Schutz gesucht. Das ist gegenüber 2023 ein Rückgang um mehr als ein Drittel. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass wir nach wie vor ukrainische Kriegsvertriebene haben, die nicht zu der Gruppe der Asylsuchenden gehören, aber auch untergebracht werden müssen. Die Zahlen von Rückführungen und Abschiebungen haben sich aber auch erhöht. Worauf ich sehr stolz bin: 2024 sind 1.082 Personen freiwillig ausgereist. Das sind rund 74,5 Prozent mehr als 2023. Da leisten die Beratungsstellen im Land gute Arbeit.

epd: Die Abschiebehaft in Glückstadt, die Schleswig-Holstein, Hamburg und Mecklenburg-Vorpommern gemeinsam nutzen, ist weiterhin umstritten. Dort werden Menschen inhaftiert, die sich gegen ihre Abschiebung wehren. Hamburg nutzt die Anstalt am meisten, Schleswig-Holstein kaum.

Kratz-Hinrichsen: Ja, das stimmt. Aber Hamburg hat als Metropolregion auch einen viel höheren Ausländeranteil als die ländlichen Bundesländer. Es wird diese Einrichtung mittelfristig weiterhin geben, weil wir ja politisch stark auf Rückführung setzen.

epd: Aber da hätten Sie bestimmt auch noch andere Ideen.

Kratz-Hinrichsen: Überzeugte, freiwillige Rückkehr ist aus meiner Sicht nachhaltiger, als jemanden abzuschieben, der versucht, am nächsten Tag möglicherweise wieder illegal einzureisen. Außerdem ist sie günstiger als die Abschiebehaft, für die hohe Beträge bezahlt werden müssen.