Etwas scheu blickt die junge Angela Merkel von unten in die Kamera. 30 Jahre später ein ganz anderes Bild: Als Bundeskanzlerin schaut Merkel aufrecht und selbstbewusst in die Linse der Fotografin, die Hände in der typischen Raute-Haltung. Herlinde Koelbl fotografierte die CDU-Politikerin jedes Jahr – von ihren Anfängen als Bundesministerin für Frauen und Jugend bis zum Ende ihrer Kanzlerschaft. Die Langzeitstudie ist nur eines der vielen Projekte, mit denen Koelbl im Laufe ihrer rund 45-jährigen internationalen Karriere bekannt wurde.
Koelbl arbeitet in Serien und folgt dabei stets einem durchdachten Konzept. Im Mittelpunkt ihres Werks steht ihr Interesse an Menschen. Sie blickte hinter die Fassaden der Deutschen, fotografierte Schlaf- und Wohnzimmer, beschäftigte sich mit starken Frauen, Prominenten, Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen oder Holocaust-Überlebenden. Und auch im Alter von 85 Jahren ist ihr Werk nicht abgeschlossen: Sie arbeitet weiter an neuen Projekten, wie sie dem Evangelischen Pressedienst (epd) verriet.
Herlinde Koelbl, die am 31. Oktober 1939 in Lindau am Bodensee geboren wurde, kam als Autodidaktin zur Fotografie. Ab 1960 studierte sie Modedesign in München, wurde Mutter von vier Kindern. Ihre ersten Erfahrungen mit der Kamera machte sie nach eigenen Worten, indem sie ihre Kinder beim Spielen fotografierte. In den 70er Jahren folgten Aufträge für Zeitungen und Zeitschriften. Den Durchbruch hatte sie mit ihrem 1980 erschienenen Fotoband „Das deutsche Wohnzimmer“.
In dieser Fotoserie entwickelt die Künstlerin, deren Markenzeichen die orangerot gefärbten Haare sind, bereits die Grundzüge ihrer Arbeitsweise. „Ich habe den Menschen nie Anweisungen gegeben, wie sie sich setzen oder was sie tun sollen“, erklärte sie 2022 bei einem Künstlerinnengespräch im Friedrichshafener Zeppelin-Museum. Da sitzt zum Beispiel ein Kranführer im Sessel vor der Schrankwand in Eiche rustikal, ein Fabrikant steht aufrecht in minimalistischer Architektur mit moderner Kunst an den Wänden und ein Künstler hockt auf einer Matratze in einer winzigen, höhlenartigen Kammer.
Kritiker warfen Koelbl mitunter vor, sie inszeniere Authentizität. „Körpersprache ist die ehrlichste Message, die ein Mensch geben kann“, hält die Künstlerin dagegen. „Ich wollte immer Geschichten erzählen und in die Tiefe gehen“, erklärt Koelbl, die für ihr Werk zahlreiche Auszeichnungen erhielt, darunter die Goldene Kamera (2000), das Bundesverdienstkreuz am Bande (2009) und den internationalen Buchpreis Corine (2010). „Ich sehe mich selbst so, dass ich Themen aufgreife, die in der Gesellschaft wichtig sind und über unsere Kultur und über unsere Gesellschaft etwas aussagen.“
Von Anfang an war es Koelbl wichtig, die Menschen selbst zu Wort kommen zu lassen. In „Das deutsche Wohnzimmer“ fügt sie jeder Fotografie ein Zitat bei. Später ergänzt sie die Fotografien auch um ganze Interviews. So etwa im Band „Spuren der Macht“, für den sie ab 1991 acht Jahre lang 15 Menschen in öffentlichen Ämtern begleitete, darunter den späteren Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) und den späteren Bundesaußenminister Joschka Fischer (Grüne). Mit Angela Merkel setzte Koelbl die Arbeit nach Ende des Buchprojekts fort.
Für ihre Langzeit-Projekte fotografierte sie auch berühmte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler oder Menschen mit und ohne Berufskleidung. Aber als ihre wohl wichtigste Arbeit betrachtet die Künstlerin nach eigenen Worten die Serie „Jüdische Porträts“. Dazu besuchte sie zwischen 1986 und 1989 insgesamt 26 Holocaust-Überlebende, unter ihnen Grete Weil, Marcel Reich-Ranicki und Simon Wiesenthal, und porträtierte sie mit Fotos und Interviews.
Im Laufe der Jahre erweiterte Koelbl ihre fotografische Arbeit um Videoinstallationen, und sie drehte auch mehrere Dokumentarfilme. Darunter 2003 den Film „Rausch und Ruhm“, in dem sie den Autor und Journalisten Benjamin von Stuckrad-Barre mit der Kamera auf seinem Weg durch den Drogenentzug begleitete.
Mit ihrer jüngsten Serie betrat sie noch einmal neues Terrain: „Metamorphosen“ (2023) zeigt Pflanzen im Auf- und Verblühen: Sie fotografierte die pflanzlichen Strukturen in Nahaufnahme, sodass abstrakte Bilder entstanden.
Derzeit arbeite sie an zwei neuen Projekten, erklärt Koelbl: „Da sind wieder die Menschen absoluter Mittelpunkt. Das ist immer wieder eine große Herausforderung.“