Kosovo strebt in die EU und wirkt auf den ersten Blick wie ein fortschrittliches Land. Doch hinter der Fassade zeigen sich in der westlich orientierten Gesellschaft alte Strukturen, die vielen Frauen kaum Chancen bieten.
Auf der Straße werben sie für Demokratie. In den Klassenräumen bringen sie jungen Kosovarinnen und Kosovaren bei, was Menschenrechte bedeuten. Und im Dialog zwischen Balkan-Volksgruppen schlagen die Aktivisten der Youth Initiative for Human Rights (YIHR) Brücken, wo jahrzehntelang nur tiefe Gräben waren. Doch ein Thema liegt Marigona Shabiu, Landesdirektorin der Organisation, besonders am Herzen: Frauenrechte. Die lassen in der jüngsten Nation Europas, die EU-Mitglied werden will, oft noch zu wünschen übrig.
Pristina: In den Cafes der Hauptstadt sitzen Freundinnen, lachen, genießen zu Jazzmusik die letzten Sonnenstrahlen des Sommers. Vor ihnen eilen schick gekleidete Geschäftsfrauen über den Mutter-Teresa-Boulevard, die Fußgängerzone im Herzen der kosovarischen Metropole. Ein Kopftuch, wie Frauen es in anderen Ländern mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit tragen? Fehlanzeige. Hier trägt man höchstens Haarverlängerungen.
Doch laut Menschenrechtlerin Shabiu trügt der Schein: “Die gesellschaftliche und wirtschaftliche Position von Frauen in Kosovo ist bei weitem noch nicht dort, wo sie sein sollte. In unserer Gesellschaft, aber auch in den Institutionen, herrscht immer noch diese patriarchalische und konservative Mentalität. Sie ist beinahe eingebrannt und schränkt einen Großteil der Frauen ein.”
Shabiu betrachtet sich als Exotin im eigenen Land. Sie sei privilegiert, da ihre Familie sie stets unterstützt habe: ihren Sinn für Gerechtigkeit ebenso wie ihre Ausbildung. “Das ist leider nicht für alle jungen Frauen hier der Fall”, sagt die 31-Jährige seufzend. In Kosovo studierte sie öffentliche Verwaltung und Politik; später machte sie ihren Master in den USA. Seit mittlerweile sieben Jahren leitet Shabiu den kosovarischen Ableger von YIHR – jener Organisation, die in Deutschland vor wenigen Tagen mit dem Aachener Friedenspreis ausgezeichnet wurde. Bereits im Alter von 14 nahm Shabiu an Protesten teil und prangerte verkrustete Strukturen in der Gesellschaft an. “Ich habe es niemals als Job angesehen, sondern immer als meine Berufung”, sagt sie.
Ortswechsel nach Prizren, eine Stunde südlich von Pristina. Die historische Residenzstadt der serbisch-orthodoxen Kirche ist Heimatort von Mirela Lavric, Landesdirektorin der Concordia-Sozialprojekte. Die Nichtregierungsorganisation mit Büro auch in Deutschland setzt sich in Osteuropa vorwiegend für Kinder und Jugendliche ein. In Kosovo hat die Organisation vor drei Jahren zusätzlich eine Hilfsgruppe für Frauen aus ethnischen Minderheiten ins Leben gerufen. Das sei nötig, da sie vor einer doppelten Herausforderung stünden, erläutert Lavric: Zum einen müssten sie in einer oft patriarchalischen Gesellschaft ihre Rolle als Mütter und Hausfrauen erfüllen, zum anderen hätten sie – wie viele Roma und Aschkali – mit Armut und Ausgrenzung zu kämpfen.
“Viele der Frauen, die wir betreuen, können nicht einmal lesen und schreiben. Sie stecken in einem Teufelskreis: Ihr Analphabetismus fesselt sie an den Haushalt, sie haben keine Chance auf einen Job und somit keine Perspektiven”, so Lavric weiter. Daneben kommt es in der ethnischen Minderheit überdurchschnittlich oft zu häuslicher Gewalt – ein Problem, das auch in der albanischen Bevölkerungsmehrheit und unter Kosovo-Serben verbreitet ist.
Zu Jahresbeginn etwa sorgte die ehemalige “Miss Kosovo” Drenusha Latifi für Aufsehen: Entgegen ihrem sonst so stolzen Auftreten berichtete sie vor Fernsehkameras erstmalig über Misshandlung und Schläge durch ihren Lebensgefährten. Die Nation stand unter Schock.
In Prizren wollen Lavric und ihre Kollegen Frauen selbstständiger machen. “Wir bieten Kurse, in denen sie in vier bis sechs Monaten das Lesen und Schreiben erlernen.” Zusätzlich lernten die Teilnehmerinnen, wie sie ein Bankkonto führen, auf häusliche Gewalt reagieren und auf ihre Gesundheit und die ihrer Kinder achten. “Grundwissen, das sie zu diesem Zeitpunkt das erste Mal vermittelt bekommen”, sagt Lavric. Oft gleicht ihre Arbeit einem Kampf gegen gesellschaftliche Windmühlen. Vor allem dann, wenn es gilt, Überzeugungsarbeit bei Ehemännern und Vätern zu leisten. Immerhin: Mehreren Mädchen ermöglichten die Aktivisten auf diese Weise bereits den Besuch eines Gymnasiums.
Zurück in Pristina: klimatisiertes Büro, weiße Couch, im Hintergrund die blau-gelbe Flagge Kosovos. Im Interview will Außenministerin Donika Gervalla-Schwarz eine Lanze für ihre Nation brechen. Entgegen vielen Berichten der Auslandspresse habe sich das Frauenbild in Kosovo in den vergangenen Jahren gewandelt, sagt sie in akzentfreiem Deutsch. Überall im Land treffe man heute selbstbewusste Frauen und Mädchen, bis hinauf in höchste Staatsämter. Doch daran müssten sich viele Kosovaren erst noch gewöhnen, gibt die Chefdiplomatin zu.